85. Etappe

Von Sumartin nach Podgora

Heute morgen auf der Fähre von Sumartin nach Makarska bin ich den „Kleinen Tod“ gestorben. Seit Tagen gibt der Wetterbericht Unwetterwarnungen der Stufe Orange für die Dalmatinische Küste heraus. Heute morgen halb acht im sicheren Hafen meines Bettes in der Villa Anita finde ich das alles noch ziemlich witzig. Wie es blitzt und kracht, wie der Regen rauscht und der Wind an den Zweigen der Bäume zerrt.

Zwei Stunden später, im echten Hafen von Sumartin, beschleichen mich Zweifel. Wir sitzen in einer Bar. Der Himmel dunkelgrau, kurz vor rabenschwarz, Blitze zucken, Menschen laufen mit Regenschirmen an uns vorbei. Die Jadrolinija Linie 605 ist gerade eingelaufen. Ganz schön klein wirkt sie und wie viele Autos da raus fahren.

„Hähni, ist es eigentlich gefährlich bei Gewitter auf einer Fähre?“ frage ich zaghaft mein Gegenüber?

„Natürlich nicht Huhni“, kommt eine beiläufig gedankenverlorene Antwort. Der hat mir gar nicht zugehört! Der nimmt mich nicht ernst mit meinen Ängsten und Sorgen. Denkt immer nur an die scheiß Weltpolitik. An Putin und das Kommando Wagner mit seinem Anführer Jewgeni Prigoschin. Als ob das jetzt irgendwie wichtig wäre.

Wir gehen an Bord. Meine Anspannung steigt. Noch 15 Minuten bis zur Abfahrt. Fahrig fummele ich mein Händie aus der Hosentasche. Füttere die Suchmaschine mit: Fähre, Gewitter, gefährlich. Und da! Und da! Was habe ich gesagt! Da steht es schwarz auf weiß. In Bangladesch ist eine Fähre gekentert. Bei Gewitter. 65 Tote. Auf einem Fluss. In Bangladesch kentern andauernd Fähren, steht da auch noch. Es scheint, als habe dort ein Menschenleben einen anderen Wert.

Und hier! 2014 auf dem Bodensee. Ist eine Fähre in ein Gewitter gefahren und der Seegang war so heftig, dass es die ganze Bar leer geräumt hat. Geschirr, Gläser, Bockwürste, Kartoffelchips, alles flog durch die Gegend. Zum Glück kam kein Passagier zu Schaden.

Jetzt springt der Schiffsmotor an. Ich checke zum hundertsten Mal die Wetterapp. Ein Meer von dunkelblau bis dunkellila,  also Starkregen, zeigt sie an. Schwerste Gewitter. Die erkenne ich an den dicken orangen Kugeln und irgendwo in diesem Inferno – der kleine rote Punkt, das sind wir. Die können doch nicht losfahren, die müssen das doch sehen, die sind doch auch nicht lebensmüde! Außerdem – die vielen Frauen und Kinder an Bord.

Das Schiff legt ab. Vorhang auf für den 50minütigen Katastrophenfilm in meinem Kopf. Hauptdarstellerin bin natürlich ich. Es gibt Nebendarsteller, wie die Frau schräg gegenüber, die gerade ihr Baby stillt und den etwas rundlichen, gutmütigen Barmann. Ein Urlauberpaar aus Hessen und natürlich einen Helden, der versuchen wird mich zu retten. Ganz sicher ohne Erfolg – mal sehen, wie der Film ausgeht. Meterhohe Wellen werfen das Schiff hin und her. Die Autos purzeln durcheinander. Nicht mal festgemacht haben die Ignoranten sie. Und dann, wie sollte es anders sein, bricht die Ladeklappe. Das Siegfriedsblatt der Fähren, die jedem Idioten bekannte Schwachstelle. Das hat schon der Estonia vor Jahren den Kiel gebrochen.Ich rette mich mit einem kühnen Sprung ins Meer. Rettungsboote gibt es natürlich keine. Auch die eingespart vom gierigen Reeder.

„Huhni, wie geht es Dir denn? Du bist ja so still“, klingt eine vertraute Stimme wie aus weiter Ferne an mein Ohr. Robert hat den Blick von der Tageszeitung gehoben.

„Huhni, möchtest Du einen Kaffee trinken oder wollen wir eine Runde Karten spielen?“ Etwas Besorgnis schwingt mit. „Huhni, schau Dir den dicken Barmann an. Wenn der seine Einnahmen zusammenpackt und sich eine zweite Schwimmweste schnappt, dann ist ist die Kacke am Dampfen. Eher nicht.“

„Ach lass mal Hähni“, sage ich kläglich, „störe mich lieber nicht. Ich bin doch gerade im Kino.“

Kurze Zeit später erreichen wir Makarska. Kein nennenswerter Wellengang, nicht mal weiße Schaumkronen, regnerisch war es und ab und zu hat es geblitzt. Eine ruhige Fahrt. Für Robert und für alle anderen. Nicht so für mich. Während andere einfach eine Stunde Fähre gefahren sind, habe ich ein echtes Abenteuer erlebt und bin wie durch ein Wunder davongekommen.

Den Rest des Tages verbuche ich unter dem Motto – ein Lehrstück in Sachen Reisen.

Als wir halb elf das Schiff verlassen, regnet es ordentlich. Geschwind suchen wir uns einen trockenen Ort mit Kaffeebar. Wie nun weiter? Unsere nächste Übernachtung in Podgora ist 10 Kilometer entfernt.

„Was sagt denn das Wetter?“ fragt Robert und die Meteorologin der Reise zückt das Smartphone.

„Ja, was soll ich Dir denn sagen, Hähni, hier steht für die nächsten zwei Stunden eine 70prozentige Starkregenwahrscheinlichkeit und danach eine 60 prozentige Gewitterwahrscheinlichkleit. Was am Ende hier unten bei uns ankommt, weiß der Geier.“ Keine besonderen Aussichten.

„Wenn es so ist, dann lass uns versuchen, einen Bus zu nehmen“, verkündet Robert und ich bin ausdrücklich einverstanden. Google informiert uns, dass der örtliche Busbahnhof nur einen Steinwurf von uns entfernt ist.

Wir machen uns auf die Socke. Als wir das Lokal verlassen, hat der Regen aufgehört.

Eigentlich könnten wir jetzt auch loslaufen. Kalt ist es ja nicht. Unschlüssig stehen wir auf dem Bürgersteig herum und dann treffen wir eine Entscheidung. Eine, die uns für den Moment erleichtert und aus der Starre der Unentschlossenheit erlöst. Wir gehen zum Busbahnhof. Wenn der nächste Bus in einer halben Stunde fährt, dann steigen wir ein. Wenn er in zwei Stunden startet, trinken wir einen Kaffee und überlegen neu. Wenn er in vier Stunden fährt, laufen wir los. Knapp 10 Kilometer sind für uns eine Lustwanderung.

Gegen elf erreichen wir den Busbahnhof. Sprechen in das kleine Fahrkartenhäuschen das Wort Podgora. „Ja, ja“, kommt prompt die Antwort. 11:30 Uhr, Bussteig 6.

Irgendwie sind wir gar nicht erleichtert. Während wir eine halbe Stunde sitzen und warten, hat jemand die Wolken beiseite geschoben. Die Sonne lacht und das Händie zeigt: heiter bis wolkig und geringe Regenwahrscheinlichkeit für die nächsten drei Stunden. Im bereits tuckernden Bus kämpfe ich gegen den Impuls, im letzten Moment noch hinaus zu springen, um zu laufen. Und traurig verfolge ich auf unserer Fahrt den kleinen gelben Weg, der sich immer dicht entlang des Meeres schlängelt. Den, welchen wir heute nicht gegangen sind. Wir hatten uns entschieden.

Das rituelle Begrüßungsgetränk schmeckt schal. Wir sind nachdenklich. Täglich und ständig treffen wir Entscheidungen. Gehen wir rechts oder links herum? Klettern wir über den Zaun oder kehren wir um? Gehen wir bis x oder doch noch weiter bis y. Immer überlegen wir gründlich. Versuchen alle uns zur Verfügung stehenden Informationen einfließen zu lassen in diesen Prozess. Eine Entscheidung zu treffen, bedeutet handlungsfähig zu sein. Bedeutet aber auch, sich von anderen Verheißungen zu verabschieden. Heute war das irgendwie traurig.

Ich muss an Reini denken. Den geschätzten, erfahrenen Fliegerfreund. Er hat es mir mehr als einmal ans Herz gelegt. Hinter mir saß er als Fluglehrer und seine ausdrucksstarke Stimme verfehlte nicht ihr Ziel, als er sagte: In der Fliegerei musst Du mit allen Sinnen Deine Umgebung wahrnehmen. Alle Informationen verarbeiten. Wenn Du dann eine Entscheidung getroffen hast, nach bestem Wissen und Gewissen, dann bleib dabei!