71. Etappe

Von Ljubač nach Zadar

Heute morgen sind wir weitergezogen. Ausgeruht, munter, guter Dinge. In unserem Rucksack duftet frisch gewaschene Wäsche, in unseren Köpfen ist der Plan für die nächsten Tage. Zadar, dann die Inseln Ugljan und Pašman. In Biograd na Moru betreten wir wieder Festland. Dann weiter nach Šibenik und Split, es folgen die Inseln Brač und Hvar, die Halbinsel Peljesac, auf der wir den bosnischen Meerzugang umgehen. Und siehe da. Wir sind in Dubrovnik. Die fixe Idee von „Insel zu Insel durch Kroatien“ wird Realität. Zwei, vielleicht drei oder auch vier traumhafte Wochen liegen vor uns. Die Stimmung ist hervorragend. Wir haben den freien Tag „irgendwo im nirgendwo“ gut genutzt. Haben Steuerprobleme gelöst, hatten wieder einmal Zeit für den Verein. Ich habe lange mit Jakob telefoniert. Er kommt bestens zurecht. Hatte ich je Zweifel?

Wir haben uns auch mit der Geschichte des Landes beschäftigt, in dem wir uns nun so lange aufhalten. Von dem wir so wenig verstehen.

Die Geschichte des slawischen Balkans beruht seit Jahrhunderten auf den Spannungen, welche die sich ausdehnenden Weltreiche erzeugten. Aus dem Osten kamen die Osmanen und aus dem Norden drängten die Habsburger in die Gebiete. Nirgends fühlten sich die Menschen aufgehoben und immer wieder formierten sich Widerstandsbewegungen. Eines der populärsten Beispiele ist das Attentat auf das Thronfolgerpaar Österreich-Ungarns durch ein Mitglied einer serbisch-nationalistischen Bewegung in Sarajevo. Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und Europa in ein halbes Jahrhundert Krieg und Elend führte.

Nach dem ersten Weltkrieg ging der Wunsch der slawischen Bevölkerung nach einem eigenen Staat in Erfüllung. Am 1. September 1918 entstand das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Und somit das erste Jugoslawien. Lange währte das Glück nicht. Schon bald fühlten sich die Kroaten benachteiligt. Der serbische Einfluss war zu groß.

Der Lindwurm des Nationalismus kroch aus seiner Höhle. Die „Schwarze Legion“, genannt Ustascha, installierte in Kroatien unter Hitlers Gnaden einen faschistischen Staat. Das volle, grausame Programm wurde durchgezogen. Konzentrationslager, ethnische Säuberungen, Massenmord. Irgendwann stieg Josip Broz Tito, Marschall von Jugoslawien, die Berge hinab und seine kommunistischen Partisanen befreiten das Land von deutschen und italienischen Besatzungsmächten und von den Ustascha.

Josip Broz war ein überaus charismatischer Mann mit stahlblauen Augen. Tito (der Kampfname, den er sich gab) verwirklichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Idee vom großen Staat der Slawen auf dem Balkan. Das 2. Jugoslawien wurde geboren. Mit harter Hand führte er die Menschen. Erstickte jede Form des Nationalismus bereits im Keim. Mit politischen Gegnern wurde nicht lange gefackelt. Schon drei Jahre nach der Staatsgründung sagte er sich von Stalins Russland los und versuchte eine Art „dritten Weg“. Irgendetwas zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Grenzen waren immer offen. Amerikanische Unterstützung führte zum Wirtschaftswunder von Jugoslawien. Die Arbeiter in den Betrieben bekamen das Recht der Mitbestimmung. Es kriselte immer wieder, aber an Tito kam keiner vorbei. Als er am 4. Mai 1980 starb, war das Land in Trauer. In Trauer und führungslos. Er hatte, in seiner grenzenlosen Eitelkeit, nicht für die Zukunft Jugoslawiens gesorgt. Der große Staat zerbrach. Es dauerte nicht lange, bis Slobodan Milošević, der nationalistische Serbenführer, die Bühne des Weltgeschehens betrat und wenige Jahre später stand der Balkan in Flammen.

Unsere heutige Tour führt uns durch das Hinterland von Zadar. Es dauert nicht lange, bis uns dämmert, hier wandert niemand außer uns. Feldwege sind das Thema des Tages. Feldwege, die sich in Dorfnähe noch gut abzeichnen, dann zunehmend verkrauten und irgendwann im Nichts enden. Über drei schulterhohe Maschendrahtzäune sind wir gestiegen. Haben uns durch einen Kilometer kniehohes, dorniges Gestrüpp gekämpft und standen am Ende vor einem Elektrozaun. Dahinter eine ernstzunehmende Rinderherde. Natürlich sind wir diese weiträumig umgangen.

Gegen zehn haben wir eine Pause gemacht. In einem Dorf, dessen Namen ich nicht kenne. Wir rasten auf den Stufen des Bakmaz-Market. Ich würde es übersetzen mit „Tante Emma Dorfladen in Wellblechhütte“. Wir mümmeln unsere Pfannkuchen. Ein alter Mann schlurft dem Laden entgegen. Schiebermütze auf dem Kopf, viel zu weite Hosen von Hosenträgern gehalten, einen Einkaufsbeutel in der Hand. Er hebt die Hand zum Gruß. Der zahnlose Mund formt sich zu einem unwiderstehlichen Lächeln, das ganze faltendurchfurchte Gesicht strahlt und am allerschönsten leuchten die lebendigen Augen. Berührt grüße ich zurück.Wenig später tippelt ein altes Mütterchen an uns vorbei, die zwei Stufen hinunter. Sie trägt einen langen dunklen Rock, eine selbstgestrickte Jacke, in ihren Socken ein Loch. Sie führt ein kleines Gespräch mit uns auf Kroatisch. Ich verstehe etwas von „stara baba“. Das kenne ich aus dem Polnischen. Das heißt bestimmt so etwas wie „ alte Frau ist kein D-Zug“.

„Hähni“, sage ich zum Abenteurer an meiner Seite, „Hähni, die Leute wollen sich nicht streiten, wollen keinen Krieg. Sie wollen, dass es gut ist.“