154. Etappe

Von Kalamata nach Kitries

Es ist Zeit Abschied zu nehmen. Abschied vom Unterwegs sein, von liebgewonnenen Ritualen, vom immerwährendem Losziehen ins Unbekannte, vom Ankommen und täglich ein Stück Heimat finden. Vom Leben als Reisende. Oft habe ich unterwegs vom Ankommen am Ziel phantasiert. Wie wird es wohl sein? Wie wird es sich anfühlen? Und nachdem ich mich gestern vom klugen Leben habe belehren lassen, dass Triumph und Freudentaumel nicht angemessen sind im Angesicht unseres langen, lehrreichen und ereignisreichen Ganges durch Europa, kann ich berichten: Das Ankommen ist völlig unspektakulär und still.

Unsere Wege sind seit Tagen durchzogen von Rückblicken. Es kommt kaum noch Neues dazu. Ausblicke und Einblicke verknüpfen wir mit bereits Erfahrenem. Und so festigt sich das Erlebte.

Und wenn solche Verknüpfungen gelingen, macht sich schwelgerische Freude breit.

Und da sitzen wir nach erfrischendem Bad mit nassem Haar auf weiß steinigem Strand, bewundern die Berge der Mani, beobachten die Badelustigen. In wie vielen grünblau Schattierungen hat das Meer sich uns präsentiert. In welch mannigfaltiger Erhabenheit haben sich Berge vor uns aufgetürmt und in wie vielen Facetten durften wir Mensch erleben.

Und noch ein neuer Gedanke macht sich breit, der lange keinen Raum hatte.

„Hähni, worauf freust Du Dich am meisten, wenn wir angekommen sind?“ Und damit meine ich nicht den Moment, in dem die Reise zu Ende ist, sondern das halbe Jahr, was vor uns liegt.

Die Antwort fällt gewohnt knackig aus: „Rucksack auspacken und vorerst nicht wieder ein. Auf unsere Emme (das ist der Kosename für die MZ, welche wir vor einem Jahr hierher gebuckelt haben) und Wege freischnippeln“. Bedeutet: Alte Wege mit der Heckenschere vom Gestrüpp befreien und mit dem Löffel die Fugen des Pflasters freikratzen. Wenn er dann loszieht mit seinem vorsintflutlichem Werkzeug verabschiedet er sich von mir mit den Worten: „Ich geh mal die Kurve kratzen.“

Nachdem ich dies nun in Erfahrung gebracht habe, sitze ich und warte. Und warte. Und warte. „Hähni, kannst Du mich auch mal fragen, worauf ich mich am meisten freue? Ich hab ja das Gefühl, Du interessierst Dich kein bisschen für meine Gefühle!“

„Huhni, worauf freust Du Dich am meisten?“ quetscht mein Tischgegenüber zwischen den Zähnen hervor und schaut dabei nicht einmal auf von der Speisekarte.

„Hähni, so geht das nicht!“ insistiere ich „Du nimmst mich ja gar nicht ernst.“.

Robert legt das Menue beiseite, setzt sein verständnisvollstes Gesicht auf, umhüllt seine Stimmbänder mit zartestem Schmelz und fragt: „Huhni, (lange Pause, tiefer Blick in meine Augen) worauf freust Du Dich am allermeisten?“ Und das Ganze klingt derart grotesk und ulkig, dass wir beide herzhaft lachen müssen. Ich wusste ja gar nicht, welch komödiantisches Talent mein Robert hat.

Ich freue mich auf meine Bratsche. Auch wenn ich etwas Bammel habe. Noch nie, habe ich sechs Monate nicht gespielt. Neulich in einem Imbiss am Wegesrand gab es Stühle, dessen Polster mit Notenblättern berühmter Stücke bedruckt waren. Die Noten konnte ich noch lesen und wusste auch noch, mit welchem Finger ich welche Saite herunterdrücken muss. Das macht mir Mut.

Dann freue ich mich darauf Griechisch zu lernen, und zwar jeden Tag. Bücher möchte ich lesen. Wir haben ausreichend davon in das Schweriner Paket gelegt, welches nun schon angekommen sein müsste. Und außerdem fahre ich einmal in der Woche mit dem Bus nach Kalamata. Werde Erledigungen machen (Hääh??). Auf dem Markt einkaufen und zum Friseur gehen (Und den einen oder anderen FUMMEL einkaufen, befürwortet der Korrekturleser). Kalamata ist wirklich eine schöne Stadt.

Eine letzte Sache möchte ich noch loswerden. Es gab etwas auf unserer Reise, was sich nicht spektakulär in den Vordergrund drängte, aber in seiner zwingenden Kontinuität einen großen Eindruck in mir hinterlassen hat. Der Gang durch die Jahreszeiten.

Als wir aufbrachen vor sechs Monaten, saß der Frühling noch derart verhalten in den Startlöchern, dass, man ihn kaum erahnen konnte. Ein paar frühe Vögel hatten sich bereits entschieden zu singen. Zartestes grün überzog Sträucher und Frühblüher standen verloren auf graubraunen Rabatten. Als wir in Ludwigslust ankamen, schneite es. Lange und viel haben wir gefroren. Kurz vor Passau, Anfang Mai gab es kein Halten mehr. Die Sonne bekam Kraft, die Bäume entfalteten ihre Baumkronen. Wir saßen beim Picknick im Sonnenschein und wärmten durchfrorene Glieder. In Österreich gingen wir über tausend Meter hohe Pässe zurück in den Winter. In Gmünd erlebten wir unseren zweiten Frühling. Der Flieder blühte. In Slowenien begannen die Zikaden zu zirpen und wir tauschten die lange gegen die kurze Hose. In Kroatien aßen wir die ersten Tomaten des Jahres, fingen an zu schwitzen und das noch kühle Meer wurde willkommene Erfrischung. Man rüstete sich für die beginnende Saison. In Montenegro traf uns der Hammer. 40 Grad heiße Luft füllte unsere Lungen, es gab kein Entrinnen. Nicht einmal nachts. Wir suchten Abkühlung im Shkodarsee. Vergebens. Der hatte 32 Grad. Die Wälder begannen zu brennen. Und nach dieser Hitzewelle waren 30 Grad Schattentemperatur ein Witz. Sommer im Süden ist eine Tortur. Jedenfalls für Reisende. Am Strand kann man liegen, in einem Bergdörfchen leben, in einem klimatisierten Büro arbeiten. Aber was machen wir?

Nach der zweiten Hitzewelle auf Korfu kam über Nacht der Herbst. Das Licht färbte sich golden, der Touristentrubel verebbte. Die Zikaden verstummten.  Die Nächte sind kühl und erholsam. Die Bauern bestellen die Felder ein zweites mal.

„Huhni, kannst Du mal Schluss machen?“ meldet sich der Korrekturleser. „Es ist jetzt halb elf und wenn Du möchtest, dass ich noch etwas korrigiere, dann gib mal Gas“.

„OK, OK ich höre ja schon auf.“ Verkünde ich eifrig. Was wäre ich ohne meinen Korrekturleser. Mit dem darf ich es mir nicht verderben. Aber warum eigentlich nicht.

Dies ist der letzte, reguläre Tagesbericht. Die Chronistin der Reise legt den Stift beiseite.

Morgen ist Ruhetag. Da schreiben wir den Abgesang. Alle gemeinsam. Die Chronistin, der Korrekturleser, der Abschweifer, der Fotograf der Reise und natürlich Hahn und Huhn.