Von Preveza nach Lygia
Heute sind wir mal wieder ein Stück Bus gefahren. Zwei Wunderwerke der Ingenieurskunst sind zu bestaunen, aber auch zu überwinden. Für den Automobilverkehr sind sie konzipiert. Für Fußgänger sind sie ungeeignet beziehungsweise deren Benutzung schlicht verboten. Das eine ist ein Untermeerestunnel, der einzige in ganz Hellas. Das Bauwerk unterquert den Amphrakischen Golf an seiner schmalsten Stelle zwischen Preveza und dem Flughafen Aktio und verschafft Griechenland so erstmals eine durchgehende Küstenstraße entlang seiner kontinentalen Westseite. Die 1,6 km lange Röhre beschleunigt die Fahrt von Igoumenitsa nach Patras erheblich. Das lästige Warten auf die Fähre, die seit Ewigkeiten treue Dienste leistete, hat ein Ende. Der Verkehr rauscht jetzt einfach unten durch. Die Fährleute sitzen nun arbeitslos in den Kafenions der Stadt und der Hafen verwaist. Aus Sicht der Ingenieure ist der Tunnel ein Meisterwerk. Da er in einer seismisch stark aktiven Gegend liegt, wurde er auf bewegliche Stelzen gebaut und somit erdbebensicher gemacht. Ich habe nicht die geringste Idee, wie man so einen Tunnel baut. Muss da nicht erst einmal das Wasser abgelassen werden, bevor es losgeht?
Nach kurzer Zeit waren wir durch und ich habe überhaupt nicht gemerkt, dass wir unter Wasser fuhren. Nach wenigen Kilometern gibt es die zweite Attraktion zu bestaunen. Die Brücke, welche die Insel Lefkada mit dem Festland verbindet, ist eine schwimmende Plattform, welche die beiden Ufer verbindet und sich drehen kann, um Boote und andere Schiffe passieren zu lassen. Vom Bus aus wirkt das eher unspektakulär. Wären wir zu Fuß, hätten wir uns das genauer angeschaut. Diese Passage ist leider ungeeignet für uns, weil sie viel zu stark befahren ist.
Busfahren in Griechenland ist eine Wucht. Man bekommt einfach Auskunft über die Fahrpläne, die Busse sind modern und klimatisiert, fahren meistens pünktlich und sind äußerst preiswert. Die Fahrt geht dann gemütlich über breite, gut asphaltierte und mäßig befahrene Straßen. Es gibt kein Gerangel um die besten Plätze, da auf jeder Fahrkarte neben Abfahrtszeit und Bussteig auch die Sitznummer abgedruckt ist.
Häufig schmücken die Busfahrer ihr kleines Reich. Dekorieren es liebevoll mit Papiergirlanden, Kruzifixen, Rosenkränzen und Fotos der Liebsten. Im Radio laufen griechische Chansons und der sonnenbebrillte, goldkettchentragende Herr der Landstrasse summt versunken mit (wenn er nicht gerade telefoniert) und sein gut gepolsterter Sitz wippt federnd im Takt der Unebenheiten. Wir genießen die wenigen Kilometer auf den besten Plätzen ganz vorn.
„Können wir nicht einfach sitzenbleiben und durchfahren bis nach Kalamata? Bis kurz vor das Ziel? Nicht mehr laufen, nicht mehr schwitzen, nicht mehr jeden Tag den schweren Rucksack schleppen. Müde Beine ausruhen. Ankommen.“? Denke ich und schäme mich ein bisschen dafür.
In Lefkada, der größten Stadt der gleichnamigen Insel hüpfen wir aus dem Bus, schnappen unsere Rucksäcke. Ein Schreck fährt mir durch die Glieder: „Hähni, mein Tuch, mein weißes Kopftuch … es ist weg“, rufe ich kläglich. Auch der Hahn wird auf einmal ernst „Nein, Huhni, bestimmt ist es nicht weg, es taucht ganz sicher wieder auf“. versucht er mich zu beruhigen. An Ort und Stelle und in der prallen Sonne durchwühle ich meinen Rucksack. Packe alles auf das Pflaster des Bürgersteiges. Waschbeutel, Wechselschuhe, Unterwäsche, Haarbürste, das neue weiße Kleid und das alte grüne daneben, Schlafsack, Isomatte, Laptop, Ladegerät, alles, alles, alles … bis in die Untiefen meines blauen Gefährten wühle ich mich durch. Erfolglos. Mit hängenden Schultern stehe ich vor meinen Habseligkeiten: „Hähni, es ist weg. Einfach weg. Ich habe es verloren“, stelle ich traurig fest und spüre einen dicken Kloß im Hals. Auf Reisen ist das mit dem Verlieren so eine Sache. Es gibt Dinge, die dürfen einfach nicht verloren gehen. Punkt. Ausweise, Geldkarte, Krankenversicherungskarte, Laptop, Ladegerät, Mobiltelefon und auch ganz wichtig … die Brille. Diese Dinge hüten wir wie unseren Augapfel. Sie haben ihren festen Platz und täglich gibt es die „Vorflugkontrolle“ und wir überprüfen, ob wir diese Sachen an Bord haben. Erst dann gehen wir los. Von den Dingen welche wir als ersetzbar einstufen, geht hin und wieder etwas verloren. Das Seifenkistchen bleibt einsam in der Duschkabine zurück, ein zweites teilt sein Schicksal. Der Fingernagelknipser liegt jetzt auf dem Nachttisch irgendeiner Pension. Ein Unterhemd habe ich schon vergessen und meinen Sonnenhut auch. Alles halb so schlimm. Da gehen wir in den nächsten Roßmann oder in einen Klamottenladen und kaufen Ersatz.
Aber jetzt … das weiße Kopftuch. Es ist nicht besonders wichtig für die Reise, aber es ist auch nicht ersetzbar. Ein Sonderfall. Ich habe es mir in einem kleinen albanischen Laden gekauft. Eine alte Frau schneidert dort die schönen Trachten, die ich so mag. Ich kann mir keine albanische Tracht schneidern lassen. Aber wenigstens ein Kopftuch möchte ich mir als Erinnerung mitnehmen. Ein schönes Exemplar habe ich gefunden. Es ist aus feiner weißer Baumwolle und mit einer ganz kleinen zarten Spitze umhäkelt. Gestern noch auf unserer Wanderung habe ich darüber nachgedacht, wie schön ich es finde und wie gute Dienste es mir auf unserer Wanderung geleistet hat. Täglich trug ich es zum Schutz gegen die umbarmherzige Sonne. „Bis zu meinem Lebensende werde ich es aufheben“, versprach ich mir gestern „und es in Ehren halten. Es soll mich immer an Albanien und die Reise erinnern.“ Ganz sicher hätte ich es auch auf dem Flugplatz getragen und ein Stück Albanien wäre mit mir im Segelflugzeug über Mecklenburg gekreist. Nun ist es weg. „Huhni, wir kaufen Dir ein Neues. In Griechenland gibt es auch schöne Trachten und wir finden bestimmt etwas für Dich“, versucht mein lieber Mann mich zu trösten. „Ach lass, Hähnchen“ wehre ich tapfer ab und bin doch auch traurig. "Die Lehre daraus ist: Häng Dein Herz nicht an Dinge. Erinnerung braucht keine Krücken."