Von Kanali nach Preveza
Rumms, Autsch, Mist … jetzt habe ich es auch geschafft. Mein Schädel brummt, ein paar Sternchen schwirren um mich herum durch die Dunkelheit. Ich wollte doch nur auf´s Klo. Das im Halbschlaf nicht bedachte Problem: Die Tür zum stillen Örtchen ist gerade mal 1,60m hoch. Genau wie drei von vier Türen in dieser Wohnung. Skurril ist das. Ansonsten ist die Wohnung topp. Und außerdem unschlagbar günstig im Preis. Gestern Abend habe ich noch über mein Hähnchen gespottet. Der hat sich andauernd die Rübe gestoßen. Eigentlich bei jedem rein und raus aus der Küche und auf die Terrasse und auf´s Klo eben. Wann er es wohl endlich begreift, fragte ich mich und ob wohl noch Blut fließen wird. Jetzt hat es mich selber erwischt. Das gibt bestimmt ne ordentliche Beule.
Heute sind wir nach Preveza gegangen. Die Stadt liegt am Ambrakischen Golf und ist der südlichste Punkt des Epirus. So nennt man diesen nordwestlichen Teil Griechenlands, den wir nun in Gänze auf seiner Nord-Süd Achse durchschritten haben. Epirus hat einen bergigen Charakter. Im Nordwesten fallen die hohen Keraunischen Berge steil zum Meer ab. Ganz im Norden an der Grenze zu Albanien thront der 2520 m hohe Grammos, weiter südlich der zweithöchste Berg Griechenlands, der 2637 m hohe Smolikas. Das ganze Land ist reich an Gewässern und Wäldern. Es gedeihen Eichen-, Buchen-, Kiefern- und Tannenwälder sowie an den Küsten und in den Ebenen Oliven.
Das heutige Epirus ist nur der südliche Teil eines alten Landes, welches sich bis ins heutige Albanien hineinzog. So richtig zum antiken Griechenland gehörte es lange nicht. Obwohl es voll in den griechischen Mythen- und Sagenkreis integriert wurde, war es den Epiroten im 5. Jahrhundert noch nicht gestattet, an den olympischen Spielen teil zunehmen.
Im 14.–15. Jahrhundert wurde Epirus das Ziel einer albanischen Masseneinwanderung. Und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 60 Prozent der Bevölkerung Albaner. Vor allem in den Küstenregionen siedelten sie. Nach der Befreiung von der osmanischen Herrschaft konnten die Griechen den größten Teil von Epirus ihrem Staat anschließen, während der Norden an Albanien fiel. Nachdem das Land nun geteilt war, litt die albanische Bevölkerung im griechischen Teil unter Diskriminierung, Assimilierungszwang und Sprachverbot bis zum 2. Weltkrieg. Die Çamen, so bezeichneten sich die albanischen Küstenbewohner des Epirus, wurden 1944 durch die pro-britische und königstreue Widerstandsgruppe EDES aus ihrem Siedlungsgebiet nach Albanien vertrieben, weil ihnen Kollaboration mit der italienisch-deutschen Besatzungsmacht vorgeworfen wurde. Die EDES vertrieb nicht nur Tausende von Menschen, es kam auch zu Massakern und Vergewaltigungen, von denen es zahlreiche Berichte und bis heute noch Augenzeugen gibt. Heute sind 97 Prozent der Einwohner Griechen. "Hähni, wie oft haben wir auf unserer Reise schon derartiges berichten müssen?" frage ich traurig meinen Begleiter.
Eine merkwürdige Begebenheit des Tages beschäftigt uns noch lange. Um dem dicken Verkehr zu entgehen, wählen wir kleine Pfade oder Nebenstraßen. Und auf diesen nähern wir uns auch heute der 30.000 Einwohnerstadt Preveza. Wir laufen durch ein abgewirtschaftetes Gewerbegebiet, vorbei an einem riesigen Schrottplatz. Zur rechten säumt übermannshohes Schilf einen kleinen Wassergraben. Der ist voll Müll. Auf unserer linken Seite begleitet uns ein großer, verrosteter Zaun. Dahinter hält ein alter Hund Wache über ein heruntergekommenes, verwildertes Grundstück. Viel Schönes gibt es hier nicht. Mit Schwung nehmen wir eine scharfe Linkskurve. Dahinter ist es nicht besser, nur lebendiger. Ein bunte Kinderschar nähert sich uns. Ärmlich gekleidet, dunkle Haare und Haut, keines trägt Schuhe. Sie sind guter Dinge, lachen, lärmen, zerren einen verrosteten Einkaufswagen aus dem Supermarkt hinter sich her. Als sie unser Gewahr werden, bleiben sie stehen und winken uns zu. Kurz bevor wir sie erreichen, tritt ein hochgewachsener junger Mann aus eine Wellblechbude am Wegesrand. In einer dichten Traube stehen wir da, die Kinder kommen ganz nah, betrachten uns neugierig und interessiert. Der junge Mann versucht uns zu erklären, dass wir hier nicht weitergehen dürfen. Umdrehen sollen wir. Warum? Hier steht doch nirgends ein Verbotsschild und außerdem gehen wir doch nicht die ganzen 2 km zurück. Immer wieder zeigt er auf die Kinder, tut so, als ob er etwas vom Boden aufhebt und schmeißt das Imaginäre in unserer Richtung. Offensichtlich droht uns hinter der nächsten Ecke eine Gefahr, vor der er uns warnen will. Schwer vorstellbar. Was soll uns hier schon passieren? Robert lässt sich nicht abspeisen und will an ihm vorüber. „Nein, geht bitte zurück“ sagt er eindringlich in Worten, die wir nicht verstehen. Wir drehen ab. Die freundlichen, neugierigen Kinder winken und rufen immer wieder „Thank you verry much“. Eine gespenstische Situation. Wir haben vorerst nur eine Erklärung. In Griechenland leben schätzungsweise 250.000 Roma. Meist in den Randgebieten der Städte in allerärmlichsten Verhältnissen. Vielleicht war hinter der nächsten Ecke eine von diesen Siedlungen. Man möchte nicht, dass Fremde hierher kommen, möchte unter sich bleiben. Der junge Mann kam mir vor wie ein Wächter. Ich muss das herausfinden. Aber nicht mehr heute.