135. Etappe

Kleine Robertsche Abschweifung 20

 

Die „Markos-Kinder“

Mitte der sechziger Jahre erschienen in unserer Ringer-Betriebssportgemeinschaft (BSG) für uns ungewöhnliche junge Kerle: Locken, dunkler Teint, braune Augen. Unser Trainer eierte sich einen ab, die Jungs wären wohl nur für eine kurze Zeit bei uns, wollten etwas „Ringen“ lernen. Sie kämen ursprünglich aus Griechenland, der Wiege des Olympischen Ringkampfsportes und wir sollten freundlich sein. Sie hießen Dimitri, Georgios oder Janis, Namen, die wir bisher noch nie gehört hatten.

Das anfängliche Misstrauen legte sich, als die erste Worte aus ihren Mündern kamen: „Wo issn hier de Umgleidegabine unds Glo??“ Nun, als Kinder dachten wir, alle Menschen sprechen diesen unvergleichlich geschmeidigen sächsischen Akzent und waren wenig verwundert.

Es waren „Markos-Kinder“. Nachdem die griechischen Partisanenverbände am Ende des Zweiten Weltkrieges die letzten deutsche Invasoren aus dem Land geschmissen hatten, entbrannte ein barbarischer Bürgerkrieg zwischen den von Kommunisten geführten Einheiten unter Markos Vafiadis und den Monarchisten unter König Paul, der massiv von den USA und Großbritannien unterstützt wurde. Als sich die Niederlage der Kommunisten abzeichnete, entschloss sich ihre Führung, die Kinder von Gefangenen und Waisenkinder außer Landes zu bringen. Ein Grund dafür war, dass Ende der 40er Jahre unter der „Schirmherrschaft“ der Königin Friederike ca. 20.000 Kinder kommunistischer Eltern in Internierungs- und Umerziehungslager gebracht worden waren. Davor wollte man sie bewahren.

Insgesamt über 10.000 Kinder wurden über Bulgarien und Albanien ins Einflussgebiet der UdSSR gebracht und auf die einzelnen Länder verteilt. Dort sollten sie als „kommunistische Kämpfer“ ausgebildet werden und später in Griechenland für den Sozialismus eintreten.

Ca. 1.100 dieser jungen Menschen sind in der späten SBZ und frühen DDR gelandet, begleitet von 50-60 Betreuern. In mehreren Wellen kamen sie und wurden zunächst in Radebeul empfangen, später auf ganz Sachsen verteilt. Bei ihrer Ankunft bekamen sie ein auf Griechenland ausgerichtetes Lehrprogramm, später wurden sie zunehmend in die normale DDR-Volksbildung integriert. In der Regel hatten sie den Status „Staatenlos“. Also weder DDR-Bürger noch Grieche. Sie hatten eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung, konnten auf Antrag in den Westen reisen und wurden für die DDR-Obrigkeit immer mehr als Unruhefaktor angesehen. An eine Ausbildung als „Kämpfer für den Sozialismus“ wurde nie ernsthaft gedacht, statt dessen bekamen sie eine DDR-übliche Facharbeiterausbildung und durften auch studieren .

Nach der Abdankung der Militärdiktatur der Obristen Anfang der siebziger Jahre erhielten alle Markos-Kinder die griechische Staatsbürgerschaft und sind mehrheitlich in ihre alte Heimat zurückgekehrt. In der Tasche einen Facharbeiterbrief und perfekte Deutschkenntnisse – allerdings „Deutsch auf Sächsisch“. Zu beneiden sind die Kinder nicht, viele haben ihre Eltern nie wieder gesehen. Kurz vor der Wende lebten noch knapp 400 Bürger mit griechischem Pass in der DDR.

Was gäbe ich dafür, so einem Exemplar Mensch auf unserer Reise zu begegnen. Als Wirt in einer Taverne oder als alter Taxifahrer. Wenn er mich fragen würde: „Nu, wo gommsten Du her?“ Ich wäre fassungslos, würde ihn einladen und mit reichlich Ouzo bewirten, damit er uns ausführlich seine Geschichte erzählt.

Was trotzdem am Ende noch erwähnt werden sollte: Als Ringer waren „meine“ Griechen, gelinde gesagt, allesamt LUSCHEN.

 

Ende der Abschweifung

 

Der Herbst unserer Reise entpuppt sich als bezaubernd. Seit Tagen gehen wir nun die griechische Küste entlang in Richtung Süden. Ans Ziel. Der Weg abwechslungs- und aussichtsreich. Wir finden wenig befahrene Straßen. Die Höhenmeter moderat. Die große Hitze ist vorbei. Wir schlafen wieder besser. Das Meer ist so grün wie nie und das goldene Licht hüllt die Welt in matten Glanz. Der Abschied, welcher uns umgibt, ist beruhigend und tröstlich. Stimmt fast ein bisschen froh. Er liegt hier in der Luft. Die Urlauber verschwinden, fast von einem Tag auf den anderen. Die Tavernen leeren sich. Die Menschen, die hier in der Gluthitze des Sommers geschuftet haben, bedient und gekocht, Bettzeug gewechselt, Zimmer geputzt, Eis verkauft und Schwimmringe und Badelatschen, die Bootstouren feilgeboten haben oder Jeep-Safaries zur nächsten Attraktion organisierten … etwas fällt von ihnen ab. Sie öffnen sich, scherzen, werden wieder lebendig. Wie gut mir das gefällt.

Auch in uns hat sich etwas entspannt, jetzt wo wir angekommen sind. Wir erleben täglich Neues, Ungewöhnliches, Besonderes. Aus schriller Euphorie über das Erlebte ist stille Freude geworden. Wir haben keine Angst mehr. Wir genießen die Reise.

Wir treffen alte Bekannte wieder. Bis Ende Juni begegneten wir regelmäßig deutschen Wohnmobilisten im Rentenalter. Wir haben ausführlich darüber berichtet. Lange haben wir sie nicht mehr gesehen. Im Juli und August bleiben sie zu Hause und sie haben uns auch berichtet, warum. Zu voll, zu heiß. Stimmt! Pünktlich zum ersten September sind sie zurück. Die Fähre spuckt sie aus in Igoumenitsa und nun verteilen sie sich auf Nordgriechenland und den Peloponnes, um noch mal Sonne satt zu tanken. Seit langem hören wir mal wieder das vertraute Sächsisch.

Und dann ist da noch die Sache mit dem Hund. Schon als Kind wünschte ich mir einen. Der Wunsch ging auch zwei mal in Erfüllung. Leider währte die Freude nie lange. Die kleinen wuscheligen Vierbeiner raffte es aus tragischen Gründen früh dahin. Ich mochte sie so gerne, dass ich sie sogar heimlich nachts aus der Hundehütte in mein Kinderzimmer und dann unter meine Bettdecke schleuste. Was natürlich streng verboten war. Der Wunsch nach einem vierbeinigen Gefährten ist geblieben, dazu gesellt hat sich die Vernunft. Was will man mit einem Hund in der Stadt? Ewig muss er an der Leine gehen und man kriecht ihm mit einem Plastetütchen hinterher, um seine Kacke wegzuräumen. Unmöglich. Völlig daneben und jeder der sich einen Hund in der Stadt anschafft, ist egoistisch (denke ich trotzig und meine es nicht sehr ernst) … was aber, wenn einer zu mir kommt? Nicht ich mir einen Hund einer bestimmten Rasse aussuche, zum Züchter gehe, 1500 Euro auf den Tisch lege und mit einem süßen Welpen nach Hause dackele. Nein, der Hund muss mich finden! Soviel steht fest. Und ich weiß auch schon, wie er sein wird. Eigenständig, furchtlos und ohne jede Aggression. Dieser Wunsch ist, zugegebenermaßen, in Deutschland derart unrealistisch, das die Erfüllung glücklicherweise völlig aussichtslos ist. Nicht aber im Süden Europas. Hier laufen, liegen, streunern herrenlose Vierbeiner in Massen herum auf Straßen, Promenaden an Stränden. Immer mal wieder begleitet uns einer ein Stück unseres Weges. Kommt von hinten angezottelt, läuft eine Weile mit, verschwindet irgendwo am Straßenrand. Im Vorbeigehen beuge ich mich hinab, graule ihm ein bisschen am Kopf, schaue ihm in die dunklen Knopfaugen „Na, bist Du es?“, frage ich ihn. Bis jetzt hat noch keiner „Ja“ gesagt.