130. Etappe

Von Igoumenitsa nach Plataria

Endlich mal wieder Regen. Seit wie vielen Wochen? Er bringt Kühle und damit Linderung. Etwas entspannt sich. Draußen in der Natur und auch in uns. Der Würgegriff der Hitze lässt locker und erst so wird er deutlich spürbar. Was da so auf uns lastet.

Es ist Nacht. Wir sitzen im dunklen Zimmer, das große Fenster weit geöffnet. Blitze zucken, Donner grollt, Regen peitscht auf die Straßen, entfaltet seine ganze Pracht im Lichtkegel der Straßenlaternen. Die Scheibenwischer der Autos arbeiten auf Hochtouren. Kühle Luft strömt herein. Ein besonderer Moment. Wir bestaunen ihn andächtig.

„Hähni, weißt Du noch? In Tschechien vor Monaten“, flüstere ich in die Dunkelheit, „da bin ich Nachts aufgewacht. Im kleinen Dörfchen Slutice. Ich habe aus dem Fenster geschaut und der Wind hat den Regen durch den trüben Schein der Laterne gepeitscht, genau wie jetzt. Da hat mich für einen Moment der Mut verlassen. Draußen waren sechs Grad und es regnete tagelang, wochenlang ohne Unterlass. Gefroren habe ich wie ein Schneider.“

Regen ist also nicht gleich Regen. Jedenfalls dann nicht, wenn man Landwirt ist oder viel draußen unterwegs. So wie wir jetzt. Und genau das hatte ich mir gewünscht. Draußen sein. Jeden Tag für viele Stunden.

Hier in Igoumenitsa waren wir schon öfter. Nur haben wir das nicht mit bekommen. Haben es schlicht verschlafen. Diese Stadt ist eigentlich nur Stadt durch ihren Hafen. Bis 1960 lebten hier gerade mal 500 Einwohner. Ein unbedeutendes Fischerdorf im unwegsamen Norden Griechenlands. Heute ist der Ort das Tor zum Westen für Nord- und Nordwestgriechenland. Jährlich passieren mehrere Millionen Reisende die Stadt. Täglich laufen Fähren in die italienischen Städte Brindisi, Ancona, Bari und Venedig aus. Der neue große Fährhafen im Süden der Stadt hat einen direkten Autobahnanschluss und verbindet Igoumenitsa durchgehend mit Ioannina und in ihrem weiteren Verlauf mit Thessaloniki, den wichtigsten Großstädten im Norden Griechenlands. Wir schliefen auf einer dieser großen Fähren. Auf der Überfahrt von Bari nach Patras machen sie hier mitten in den Nacht Station und spucken klammheimlich fast ihren gesamten Inhalt aus. Wo sind bloß die vielen LKW´s hin? Das Schiff war doch übervoll mit ihnen, als wir losfuhren? Fragten wir uns ein ums andere Mal, als wir am Morgen, kurz vor Patras verschlafen aus der Kajüte kletterten und verwundert die gähnende Leere im Schiffsbauch betrachteten. Nun wissen wir es. Das nächtliche Unbekannte hat ein Gesicht. Straßen, Häuser, Menschen, Geschichte. Die Erkenntnis fühlt sich erleichternd an.

Heute habe ich viel über den Begriff „Freundlichkeit“ nachgedacht. „Freundlichkeit“. Die Menschen in Albanien sind freundlich und die Menschen in Griechenland nicht. Attestierte ich gestern ganzen Volksgruppen, was nicht mehr ist, als ein Ausdruck von Sprachlosigkeit. Zunächst heißt es nicht mehr oder weniger, als das in Albanien die meisten Menschen, die ich getroffen habe, freundlich zu mir waren und einige wenige nicht. Und in Griechenland waren die wenigsten freundlich und einige wenige waren es (das waren garantiert Albaner, davon gibt es hier reichlich). Aber was beschreibt dieser Begriff „Freundlichkeit“ in meiner Wahrnehmung? Wann ist ein Mensch freundlich? Versuche ich es.

Einem freundlichen Menschen zu begegnen, bedeutet ihm in die Augen schauen zu dürfen. Blicke treffen sich. Offen neugierig wird das Gesicht und die Gestalt des Gegenübers abgetastet. Zahlreiche Fragen durchziehen wie unsichtbare Fäden den immer kleiner werdenden Abstand. Die eine Seite fragt: Woher kommst Du, wohin gehst Du, was führt Dich hierher? Die andere: Wie lebst Du hier jetzt? Wie lebtest Du früher? Was ist Dir wichtig? Und beide fragen sich: Was können wir füreinander tun? Was können wir voneinander lernen?

In den allermeisten Fällen bleiben diese Fragen unbeantwortet. Zu flüchtig die Begegnung. Aber allein ihre Existenz knüpft Bande und ein respektvoller Gruß manifestiert den unsichtbaren, unausgesprochenen Pakt.

Und sind nun im Umkehrschluss jene unfreundlich, welche tief in Gedanken versunken, gar nicht wahrnehmen, dass du an ihnen vorüber läufst? Welche so zielstrebig auf die nächste touristische Attraktion zueilen, dass für Begegnungen mit Menschen rechts und links des Wegesrand weder Raum noch Zeit bleibt. Schlicht nicht mitgebucht im „all inclusive Paket“. Welche die Neugier verloren haben, weil sie bereits zu viel in ihrem Leben erlebt haben oder weil sie Neugier schlicht aufdringlich finden? Weil sie müde sind von der überwältigenden Menge Menschen aus aller Herren Länder, welche der Massentourismus in ihr Land schwemmt und müde von der servilen Freundlichkeit, mit der sie hier in den wenigen Sommermonaten des Jahres ihr Geld hart verdienen.

Fakt ist eins: Freundlichkeit ist eine Pflanze, die nur dann zu ihrer Blüte kommt, wenn zwei Gärtner sich um sie kümmern. Zwei, die zueinander passen.

„Lass ab, Huhni“ dringt eine Stimme aus weiter Ferne an mein Ohr. „Die Leute in Griechenland sind nicht unfreundlich. Sie sind anders freundlich. Schau doch mal genau hin. Das kannst Du aber nur, wenn Du endlich mal Deine rosarote Albanienbrille absetzt.“

Streckenmäßig hat es heute mal wieder ordentlich geschnurbelt. Durchschnittsgeschwindigkeit 4,9 km/h. Tendenz Süden, wenig befahrener Asphalt mit schönen Ausblicken. Wir sind zurück in der Reise.