120. Etappe

Von Cerkovine nach Flora

Unser albanischer Schlendrian ist enorm. Jetzt ist es schon fast halb zehn und wir sitzen immer noch wie festgebacken auf den wackeligen Holzstühlen der einzigen Bar des kleinen Ortes, in welchem wir so wunderbar genächtigt haben. Cerkovinë liegt malerisch in hügeliger Landschaft, umgeben von Weinbergen und uralten Olivenbäumen. Der Blick auf das acht Kilometer entfernte Meer ist bezaubernd. Die Leute leben hier vom Wein und von den Oliven. Im kleinen Stil werden die Produkte exportiert. Und Salz wird gewonnen. Direkt an der Küste arbeitet die einzige Saline Albaniens auf Hochtouren. Das Café ist das Zentrum des Dorfes. Hier kann man nicht nur Kaffee, Raki oder Bier trinken, man bekommt auch die wichtigsten Lebensmittel. Und die werden auch gekauft. Niemand fährt hier mit dem Auto zum Supermarkt ins 15 km entfernte Vlora, um sich die Vorratskammer zu füllen.

Als wir heute morgen gegen halb neun noch etwas verpennt anschlurften, war die Bude schon voll. Auf der kleinen Terrasse stehen nur drei Tische. Besorgt blicken sich die Gäste um, ob denn noch Platz für uns wäre und geben dem jungen Kellner ein Zeichen, er solle sich doch bitte sofort um uns kümmern. Und dann sitzen wir leicht erhöht auf hölzernem Podest und eine Prozession dörflichen, albanischen Lebens zieht an uns vorüber.

Eine Hirtin mit Strohhut schwingt einen Palmwedel und treibt eine große Schar glucksender Puten an uns vorbei. Der einzige Truthahn ist ein Prachtstück. Und wie er sich gebärdet. Ein weißer Hund erscheint an der Straßenecke und das Bimmeln von kleinen Glocken kommt näher. Er ist der Anführer einer ganzen Herde von ebenso weißen Schafen. Sie trotteln ihm stumpf hinterher. Manchmal schaut er sich nach seinen Schäfchen um. Ein ganz putziges Lamm schmiegt sich dicht an ihn. Ob es da etwas verwechselt? Sie ziehen vorüber. Glöckchenklang verhallt.

Ein alter Esel betritt die Bühne. Langsam mit gesenktem Kopf trottet er vorbei. Er schleppt einen langen Strick mit sich. Ob das wohl seine Richtigkeit hat? Der stolze Hahn, der gerade auf die Mülltonne flattert, interessiert ihn nicht die Bohne. Ein winziger Traktor, Marke Eigenbau schnauft heran. Gjyshi (Opa) hebt vorsichtig seine kleine Enkelin von der Ladefläche. Sie sitzt auf einem roten Kissen. Beide verschwinden im Laden. Kommen zurück mit einem Sack Maiskörnern und die Kleine hält eine Tüte Kartoffelchips fest in den Fäustchen. Schon zurück am Traktor, zupft das Mädchen ihren Großvater am Ärmel. Er beugt sich herab, sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Er lacht, nickt mit dem Kopf. Beide drehen sich zu uns um. Das Mädchen winkt uns zu. Zögerlich. Wir winken zurück. Sie fasst Mut und winkt herzhafter. Dann wird sie fürsorglich wieder auf ihrem roten Kissen verstaut und das Gefährt verschwindet. Das Winken der Kleinen beendet erst die steile Linkskurve.

“Nun aber los mit uns”, entscheide ich halbherzig. Und es dauert noch eine ganze Weile bis die Landstrasse uns wieder hat.

Heute sind wir nach Vlora gegangen. Der Küstenort ist mit 80.000 Menschen die drittgrößte Stadt in Albanien. Es gibt eine Universität und ein Theater. Wir haben den Namen schon einmal gehört. Der Lotterieaufstand, der 1997 zum Sturz der Regierung und zu anarchischen Verhältnissen im Land führte, hatte sein Epizentrum in dieser Stadt. In den wilden 1990ern wurde Vlora zu einem Zentrum des Schmuggels über die Adria.

Die Straße von Otranto ist nur etwas mehr als 70 Kilometer breit. Mit Schnellbooten können Schmuggler das italienische Festland in zwei Stunden erreichen. Die Mafia transportierte Drogen, Waffen und Menschen (Flüchtlinge aus Albanien sowie Frauen aus Asien für die Prostitution) nach Westeuropa. Immer wieder kam es zu Unfällen, bei denen die betrogenen Hoffnungsvollen ums Leben kamen. Albanische Behörden kämpften mit Unterstützung von Italienern, Deutschen und Amerikanern gegen das organisierte Verbrechen.

Ab den 2000er Jahren verbesserte sich die politische Lage in der Stadt enorm und es entstanden zahlreiche Hotels, Restaurants, Bars und

Diskotheken. Zudem wurden Strände angelegt und Straßen ausgebaut. Es wird vermutet, dass der Großteil des Geldes für den touristischen Bereich aus dem Handel mit Drogen, Waffen und Menschen in den 1990er Jahren kamen. Viele Gebäude wurden ohne Baugenehmigungen errichtet. Viele wurden während einer städtischen Aktion um 2010 wieder abgerissen.

Von all diesen dunklen Seiten der Menschheit ist jetzt nichts mehr zu spüren. Es ist schön hier. Großzügige, baumreiche Boulevards durchziehen die Stadt und enden am Meer. Man könnte von den Bürgersteigen essen, so sauber ist hier alles. Und selbst der Massentourismus ist in Vlora nicht bedrohlich. Irgendwie verläuft sich alles zwischen Himmel, Meer und Bergen und das Leben ist, wie überall in Albanien, ruhig und beschaulich.