119. Etappe

Von Fier nach Cerkovine

Ich sitze vor meinem kleinem Laptop. Meinen Finger irren über schlecht beleuchtete Tastatur in albanischer Nacht. Hunde bellen in der Ferne, Grillen zirpen, Kinderstimmen dringen aus weiter Ferne an mein Ohr.

Die Chronistin dieser Reise kommt an ihre Grenzen, kapituliert vor der Vielzahl der Ereignisse, vor dem Sturm der Gefühle.

Bisher war es meine selbstgewählte Aufgabe, das Wesen des Tages einzufangen. Was hat uns bewegt, was hat uns inspiriert, was war das Wesentliche in den letzten zehn bis zwölf Stunden?

Irgendetwas hat sich immer gefunden. Der letzte Macho der Adria, der üble Balkankrieg, frische Muscheln aus der Bucht von Mali Ston oder schlicht Heimweh. Manchmal lagen die Geschichten auf der Straße, manchmal musste ich sie aufspüren.

Was uns von heute morgen um acht bis zum Sonnenuntergang begegnet ist, hat das Zeug zum Märchenbuch. Märchen aus tausend und einer Minute in Albanien.

 Es ist unmöglich zu fokussieren, es ist unmöglich alles zu erzählen.

 Im klapprigen Bus fahren wir von Fier nach Levan. Levan? Levan? Germanija? (Ihr seid Deutsche?)

Man hievt uns in den Bus, man ist besorgt um unsere Rückreise. Nein, wir wollen nicht zurück, wir wollen einfach nach Levan. Die Fahrt kostet 60 Lek (60 Cent). Am Ziel vorbei zu fahren ist unmöglich. Der Busfahrer und alle Gäste haben höchstes Interesse, uns unseren absurden Reisewunsch zu erfüllen. Zwei schmuddlige Turisti wollen nach Levan. Man versteht es kaum, man hinterfragt es nicht, man sorgt dafür, dass wir gut ankommen.

 Am Ziel trinken wir unseren ersten Kaffee, biegen dann von der Hauptstraße ab. Die Häuser werden kleiner und kleiner, die Menschen mehr und mehr. Hunde chillen auf der Straße, frisch gewaschene Wäsche hängt überall, schrottreife Kühlschränke, Waschmaschinen, Autos und Pferdekarren türmen sich. Sollen eventuell repariert und verhöckert werden. Kinder mit ungewöhnlich dunkler Haut (für albanische Verhältnisse) grüßen freundlich am Wegesrand. Wir sind in einer Siedlung von Sinti oder Roma gelandet, die nichts mit den elenden Verhältnissen in Shkodar gemein hat. Jeder hat hier sein Tun. Verkauft selbst gesponnene Schafwolle oder Siebe aus Holz für das Bäckerhandwerk. Am Rand der Siedlung ein großer Müllhaufen. Pferde grasen auf kläglicher Weide, ein Esel steht mit allen Vieren knietief im Müll und knabbert lustlos an einem Pappkarton. Das große „Hallo“ aus überfüllten Schrottkarren begleitet unsere Wege.

In Frakull ist Markt. Und dieser Markt hat nichts gemein mit den etepete Märkten in Südfrankreich und auch nichts mit dem „ich bin so super Bio-Markt“ in den Schweriner Höfen. Hier werden unverarbeitete Nahrungsmittel feilgeboten. Willst Du ein Huhn? Hier hast du es. Mit Haut und Federn und Füssen. Mach was daraus. Das Huhn erscheint wenig begeistert.Kinder kommen uns schwatzend entgegen. Sie essen etwas aus einer kleinen, dreieckigen Papiertüte.

„Hähni, das will ich auch haben, lass uns mal in diese Richtung gehen, wir haben ja noch nicht gefrühstückt“.

Und dann sitzen wir in dieser kleinen Bäckerei. Eilig wird ein kleiner Tisch für uns abgewischt. Stühle werden organisiert. Staunend mampfen wir warmen Burrek, eine Art Blätterteig mit Käse darin und trinken … ich kenne den Namen nicht...leicht gesalzenen, kalten Trinkjoghurt … es ist köstlich (Ayran heißt das Getränk, meint mein schlaubergerischer Begleiter). Und während wir da sitzen zieht das Leben an uns vorüber. Leute kommen und gehen. Und am Ende bekommen wir noch ein dickes Stück Kuchen geschenkt. Gewissenhaft packen wir die Gabe ein. Das essen wir später, wir haben ja noch 12 Kilometer vor uns.

Während wir durch flache, fast mecklenburgisch anmutende Landschaft wandern, fangen wir an, das Prinzip „Reise“ zu verstehen. All die wundersamen Dinge würden uns in einem klimatisierten Mietwagen auf der Suche nach den schönsten Orten Albaniens nicht begegnen. Und auch nicht per Reiserennrad auf der Euroveloroute 8. Alles darf durchschritten und erlebt sein.

„Hähni, es ist jetzt 21:55 Uhr, das erste Blatt ist beschrieben und nicht mal die Hälfte der wundersamen Geschichte ist erzählt. Was soll ich tun?“ Schweigend stellt mein Mundschenk mir ein zweites Glas Rotwein auf den Tisch. Also gut weiter.

Irgendwann verliert sich unser Weg im Brombeergebüsch. Rechts und links übermannshohe Maisfelder. Wir krauchen durch Gebüsch entlang eines in die Jahre gekommenen Zaunes. Da ein Haus, da eine kleine Gartenpforte, wenn nicht der schmale Wasserkanal dazwischen wäre. Ein Hund bellt.Wir rufen, bekommen sofort Antwort. Ein Mütterchen öffnet die rostige Tür. Natürlich dürfen wir sie benutzen, aber Moment … sie ruft etwas in Richtung des Hauses. Eilig wird ein Bohle herbeigeschleppt, damit wir trockenen Fußes über den Wasserlauf kommen und natürlich lädt man uns zu Kaffee ein. Dankend lehnen wir ab.

Reicht es an Geschichten? Mir ja, aber eine kommt noch. Den nun kommenden Abschnitt des Weges wollen wir auf dem stillgelegten Gleis der albanischen Eisenbahn zurücklegen. Sie verläuft parallel zur vielbefahrenen Straße. Vor allem die Brücke über den Fluss, die ist das Nadelöhr. Das Gleisbett ist intakt, die Schienen schimmern matt. „Hähni, warum glaubst Du, dass hier kein Zug mehr fährt?“ befrage ich meinen eisenwegaffinen Begleiter. Er belächelt mich spöttisch. „Hasenfuss-Huhni du. Süß, wie Du dich immer wieder umschaust, ob da nicht ein Zug kommt.“

Es trompetet dumpf. Einmal, zweimal, dreimal. Wir stehen mitten auf der Eisenbahnbrücke. „Hähni, da kommt ein Zug“ rufe ich verzweifelt. Autofahrer geben Lichthupe. Wir klettern über rostige Leitplanken in Sicherheit. Ein Güterzug rattert an uns vorbei. Vielleicht mit 30 Kilometern pro Stunde.

Weiter geht’s durch wunderbare Landschaft. Wein wird angebaut und Oliven. Wir beziehen eine schöne Ferienwohnung. Kaufen albanischen Wein aus kleinster Winzerei und bekommen noch eine Flasche selbstgemachtes Olivenöl geschenkt. Reicht es? Wir verneigen uns vor diesem Land.