118. Etappe

Von Divjake nach Fier

Was war das denn nun wieder für ein Tag! Als wir gegen 14:30 Uhr in Fier ankommen, schnappen wir nach Luft wie Fische auf dem Trockenen. Schütteln ungläubig die Köpfe. Beim Begrüßungsgetränk rekapitulieren wir die Ereignisse.

Viel haben wir uns für heute vorgenommen. Entsprechend zeitig sind wir auf der Piste. 23 km durch den Nationalpark Divjaka-Karavasta liegen vor uns. Das gönnen wir uns, obwohl es ein Umweg ist. Der Nationalpark besteht im Wesentlichen aus einem anderthalb Kilometer breiten Waldstreifen, in dem bis zu 400 Jahre alte Pinien stehen. Dieser trennt einen breiten Sandstrand von der größten Lagune Albaniens. Die Lagune, sie ist 45 Quadratkilometer groß und gerade mal einen Meter tief, ist ein bedeutendes Refugium für einige selten gewordenen Wasservögel.

Hier leben fünf Prozent der Weltpopulation von Krauskopfpelikanen. Fünf Stück davon habe ich mit eigenen Augen gesehen.

Es ist paradiesisch hier. Erst laufen wir auf einem Holzsteg, später auf sandigem Weg durch den alten Wald, dann auf einem unglaublich langen Damm entlang der Lagune. Zur linken die große, silberne Wasserfläche, zur rechten sumpfige, geheimnisvolle Landschaft, dahinter der Wald. Manchmal, ganz kurz, blitzt das Meer zwischen den Zweigen der Bäume hervor. Turisti? Fehlanzeige. Die gibt es hier nicht. Menschen schon.

„Hähni, siehst Du die Häuser da hinten am Horizont“? „Klar, sehe ich“, lügt mein Begleiter, nur um seine Ruhe zu haben. Er ist blind wie ein Maulwurf. „Hähni, wenn wir da sind, da machen wir Frühstück, ok?“ Die Antwort interessiert mich wenig, ich habe entschieden.

Wir nähern uns der menschlichen Siedlung. Sie entpuppt sich als eine Ansammlung von Ruinen, welche um eine kleine Brücke gruppiert ist. Alte Männer angeln. Lange Ruten werden ins Wasser gehalten, lautstark und freudig jede Regung unter der Wasseroberfläche kommentiert. Am Wegesrand stehen klapprige Mopeds und Fahrräder. Wir setzten uns zu ihnen auf die Brücke. Das müssen wir uns näher anschauen und außerdem ist ja jetzt Frühstückspause. Während wir da nun so sitzen und einträchtig die Reste vom gestrigen Abendbrot verzehren (Pellkartoffeln und hartgekochte Eier), nähert sich uns einer der Fischer mit einer Plastetüte in der Hand. Ganz klein und hutzelig ist er schon vor lauter Alter und sein Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen. Vorsichtig tippt er Robert auf die Schulter. „Hier für Euch, nehmt, nehmt“. Zögerlich, überrascht, ungläubig nehmen wir sein Geschenk entgegen. Es ist eine Büchse wohltemperiertes Bier. Es liegt etwas Magisches in diesem Moment. Hier auf der Brücke, mit diesen lieben Leuten, umgeben von stiller, bezaubernder Landschaft.

Das Bier ist alle, wir ziehen weiter. Bedanken uns herzlich, winken lange. Die Lagune nähert sich nun ihrem Ende und der zweite Teil der Geschichte beginnt. Auch heute müssen wir wieder, aus Mangel an Quartieren, einige Kilometer mit einem wie auch immer gearteten Fahrzeug zurücklegen. Wie gestern bereits eingeübt, übergebe ich nun das Zepter an Robert. Ihm schwebt irgendetwas vor mit trampen und Bus oder U-Bahn. Oder so ähnlich. Soll er mal. Ich bin nur mit. Das erste Auto, welchem wir nach 20 km begegnen, wird von Robert angewunken. „Nach Fier wollt ihr? Da fahren wir nicht hin. Wir fahren nach Lushnja. Aber wir bringen Euch zur Bushaltestelle. Das ist etwa 15 km von hier.“ Das ganze mit Händen und Füssen und wenig Worten. „Du Tarzan, ich Jane“, fällt mir dazu ein. Die wahrscheinlich wortgewaltigste Liebeserklärung der Weltliteratur. (Hä, fragt der Korrekturleser besorgt, wovon redet die Dame neben mir, was entgeht hier mir gerade?“

Wir schmeißen unsere Rucksäcke auf die Ladefläche des schwarzen Pickups und steigen ein. Los geht’s und nun müssen wir uns erst mal orientieren. Der Fahrer, er sitzt rechts! Er ist ein ruhiger, dunkelhaariger Typ Ende 40. Neben ihm ein flinkes Greislein, bestimmt an die 80. Im dunkelgrauen Anzug und mit einem Hut. Goldzähne blitzen und er trägt eine coole Sonnenbrille. Hinten neben mir ein großgewachsener junger Mann. Lebendig und weltgewandt. Alle schwatzen und scherzen miteinander. Der Googleübersetzer wird gezückt. Ob man uns hilft in Albanien, will der junge Mann wissen. Ob man uns hilft? Wir werden jeden Tag mit Geschenken überschüttet. Er übersetzt. Ein Plan wird geschmiedet. Man fährt uns jetzt zur Bushaltestelle und dort gehen wir in ein Restaurant und bekommen ein Essen und ein Bier. Das ist das mindeste, was sie für uns tun wollen. „Nein, nein das ist nicht nötig“, tippe ich in den Googleübersetzer. „Ihr nehmt uns mit dem Auto mit. Das ist eine große Hilfe und Geschenk genug“. Auch diese Mitteilung wird im Auto verlesen. Wieder folgt anerkennendes Nicken. Man erklärt mir, dass Hilfsbereitschaft hier in Albanien normal ist und etwas zu tun hat mit Respekt vor den anderen Menschen. Da bekomme ich eine Gänsehaut.

Am Ende sitzen wir im Restaurant. Alles sollen wir bekommen, wir nehmen wenig. Gerade soviel, um sie nicht zu enttäuschen oder gar zu beleidigen. Am Ende bekommen wir von jedem noch eine kleine Geschichte geschenkt.

Papi, der Fahrer hat sechs Jahre in Griechenland gearbeitet und dort gut Geld verdient. Jetzt züchtet er Schafe hier in der Gegend. Stolz zeigt er uns kleine Videos. Er mit seiner Herde, er beim Schlachten. Mejdi, der junge Kerl, arbeitet in einem Schlachthof in Venedig. Auch er zeigt uns Fotos. Von seiner kleinen Tochter, die einen Preis gewonnen hat auf dem berühmten venezianischen Karneval. Und der alte Jasin sitzt da, strahlt über das ganze Gesicht und freut sich, dass der Quatsch mit Enver Hoxha Geschichte ist. „Sonst wären wir uns doch nie begegnet und könnten hier niemals gemeinsam ein Bier trinken. Bier gab es bei Enver nicht, nur Raki.“