Von Golem nach Divjake
Die Menschen in Albanien sind nicht nur gegenüber Fremden oder zu „Turisti“, wie sie uns liebevoll nennen, freundlich und hilfsbereit. Sie gehen auch zuvorkommend und respektvoll miteinander um. Das durften wir heute ganz eindrucksvoll beobachten beim großen Abenteuer „Albanien und der öffentliche Nahverkehr“, in das wir uns Hals über Kopf stürzten. Wie immer war es die Alternativlosigkeit von stark befahrenen Straßen und überteuerten Quartieren, die uns zu diesem Schritt zwang. Autobahnen wollen wir nun beim besten Willen nicht gehen, auch wenn die Fahrer in Albanien generell große Rücksicht auf uns Fußgänger nehmen. Weiträumig werden wir umfahren und wenn es nicht geht, weil Gegenverkehr die Spur blockiert, dann bremst man ab, um uns nicht am Straßenrand in die Bredouille zu bringen. Eigentlich das Normale in Deutschland, würde ich sagen. Das haben wir nur vergessen auf der Wahnsinnspiste Kroatiens, der legendären Jadranska Magistrala. Dort haben wir gelernt: Als Fußgänger bist Du der letzte Arsch.
Aber wie auch immer. Autobahn wollen wir nun wirklich nicht gehen. Autobahn ist aber die einzige Möglichkeit, den wild mäandernden Shkumbin zu überqueren, einen der wichtigsten und größten Flüsse Albaniens.
Also nehmen wir den Bus. Wie soll das denn aber bitte schön gehen? In Kroatien gab es Bushaltestellen ohne Fahrplan. In Albanien gibt es nicht mal Bushaltestellen auf den Dörfern und über Fahrpläne brauchen wir erst gar nicht zu reden. Als wir heute morgen um acht aufbrechen, bin ich mächtig nervös. Gestern Abend noch habe ich unter hilflosen Tränen Robert den Schwarzen Peter zugeschoben.
„Bring uns in das 20 Kilometer entfernte Rrogozhinë, den Startpunkt unserer Wanderung, den Rest erledige ich. Du kannst ja schließlich auch mal was machen, lässt dich von mir hier durch das Abenteuer deines Lebens schleifen, im langen Hänger stehst du rum, wartest auf Anweisungen, immer muss ich alles alleine…“ Das ganze üble Theater eben, wenn man an seine eigenen Grenzen kommt. Er erträgt meine Tiraden wie gewohnt schweigend. Seine letzte Ansage ist: „Huhni, stell den Wecker auf um sieben. Spätestens um acht starten wir. Ich bringe uns dahin.“ Noch lange sitzt er. Studiert die Landkarte, schreibt mit großen, deutlichen Buchstaben - für jedermann lesbar - gewissenhaft Ortsnamen in sein kleines Reisebüchlein.
„Die ersten sechs Kilometer, bis in die nächste Kleinstadt trampen wir“, entscheidet der Reiseleiter des Tages. Wie zu erwarten in diesem Land, sitzen wir bereits nach zwei Minuten in einem schicken, dunklen Mercedes. Ein feiner, alter Herr steuert das Fahrzeug mit ruhiger Hand. Robert neben ihm hält sein kleines Heftchen mit den Ortsnamen fest in der Hand. Der Herr kann kein Englisch, wie die meisten älteren Menschen in diesem Land. Aber er ist von einer Feinfühligkeit (wie wir sie jetzt schon oft hier erlebt haben), dass er auch mit wenig Worten unsere Absichten erkennt.
„Nach Rrogozhinë? Ich bringe Euch zur Busstation.“
Aber damit nicht genug. Für ihn ist seine Aufgabe erst dann erledigt, als er uns samt Gepäck dem zuständigen Busfahrer übergeben hat.
Die sogenannte Busstation ist nicht mehr als ein staubiger Parkplatz. Es gibt keine Bussteige oder Fahrkartenschalter oder elektronische Anzeigetafeln mit Abfahrtszeiten, nicht mal handgeschriebene Fahrpläne. Ein paar klapprige Kleinbusse stehen herum. Hinter der Windschutzscheibe klebt ein Zettel mit dem jeweiligen Zielort. Der nun für uns verantwortliche Fahrer verstaut hilfsbereit unser Gepäck im Kofferraum, den er vorher geschwind mit einem kleinen Handfeger auskehrt. Wir steigen ein. Vielleicht zwölf Menschen plus zwei neben dem Fahrer finden Platz.
Der Fahrplan geht so: Wenn der Bus voll ist, fährt er los. Ist doch ganz einfach. Nur voll reicht nicht. Er muss berstend voll sein, sonst lohnt sich doch die Fahrt nicht. Und die Menschen steigen ein. Ein schicker alter Herr im Schlips, ein zahnloses Bäuerlein, eine alte Dame mit ihrer kleinen Enkelin, eine mit Beuteln schwer bepackte Dorfbewohnerin auf Einkaufstour, eine Mittdreißigerin und und und. Es gibt nicht für jeden einen Sitzplatz und vor lauter Hilfsbereitschaft vollführt man in dieser Enge ein wahrhaftiges Tänzchen. Immer wieder steht einer auf, um dem nächsten seinen Platz anzubieten oder Taschen in den Bus zu hieven. Dabei schwatzt man fröhlich und unaufgeregt. Was für ein heiteres Gedränge.
Irgendwann geht es dann los. Klimaanlage? Wozu. Fenster werden sperrangelweit aufgerissen und die Schiebetür bleibt einen Spalt offen. Haare und Kopftücher flattern im Fahrtwind. Nun erkenne ich auch das Prinzip der fehlenden Bushaltestellen. Der Bus hält einfach da, wo die Leute aussteigen wollen oder da, wo einer winkend am Straßenrand steht. Beim Aussteigen drückt man dem Fahrer einen Münzling in die Hand. Absolut bedarfsgerecht. Genial. Das ist die Zukunft des Nahverkehrs im ländlichen Mecklenburg, ein Pilotprojekt für ganz Deutschland.
Wieder um eine wertvolle Erfahrung reicher, kommen wir gegen drei Uhr in Divjakë an. Die Wanderung - eine Lust. Wir laufen durch Felder, passieren lebendige Dörfer. Tief hängen dunkle Wolken vor unbarmherziger Sonne. Ein kühler Wind weht. Heute stand seit Wochen mal eine zwei vor der Tageshöchsttemperatur. Was für eine Wohltat.