115. Etappe

Von Kameras nach Rreth

Unser albanisches Wunder wird heute elf Tage alt. Man erschlägt uns, und zwar mit Geschenken. Wir können es kaum glauben, wissen nicht, womit wir uns das verdient haben. Und schließlich müssen wir uns alles verdienen, das ist unser genetisches Programm.

Schwer beladen mit drei Kilogramm Gemüse ziehen wir jubilierend über die kleine Dorfstraße zu unserem Haus. In mindestens 130 Quadratmetern residieren wir heute. Zwei Schlafzimmer, ein riesiges Bad, eine große Küche, einen rundumlaufenden Balkon. Von jedem Zimmer aus kann man ihn betreten. Es ist hell, kühl, der Wind durchstreift das ganze Haus. Einziger Nachteil: Heute sind wir so richtig auf dem Dorf gelandet. Kein Restaurant, kein Imbiss, keiner, der uns mit albanischen Köstlichkeiten verwöhnt. Heute müssen wir wieder mal selbst für uns sorgen. Wir haben ja schon fast vergessen, wie das geht.

Gegen 17:00 Uhr ziehen wir mit unserem grünen Einkaufsbeutel los. Ganz sicher gibt es Nahrung in einem Supermarkt anderthalb Kilometer die Straße nach links. Das haben wir auf dem Hinweg gesehen. Aber anderthalb Kilometer ist ein ganz schöner Batzen. Und da war noch was am Straßenrand, einen Steinwurf von hier entfernt, versteckt unter dem grünen Dach von Wein, irgendein Lädchen. Das müssen wir uns genauer anschauen. Behutsam tasten wir uns heran. Bleiben schüchtern am Eingang stehen, spähen vorsichtig hinein. Kleider kann man hier kaufen und Schuhe. Bälle und aufblasbare Schwimmtiere. Noch tiefer im Dunkel des Ladens zeichnen sich Töpfe ab und Geschirr. Ein paar Getränkeflaschen erkenne ich. Zögerlich treten wir über die Schwelle.

Ein alter Mann steht von einem Sofa auf. Wie er uns helfen könnte, fragt er auf Italienisch. Während Robert ihm gestenreich erklärt, woher wir kämen und dass wir leider gar nicht Italienisch sprechen, sehe ich mich genauer um. Ja, es gibt Nudeln und Brot. In einem kleinen Kühlschrank lagert abgepackter Käse und etwas Wurst. Bier habe ich gesehen. Ob es Wein gibt? Leider kein einziges Stück frisches Gemüse. Außer einer Kiste mit Kartoffeln und einer mit Zwiebeln scheint es hier nichts vom albanischen Gold zu geben. Mist. Überall an der Straße wird es angeboten. Nur heute und hier nicht. Ich kann doch die Nudeln nicht trocken herunterwürgen. Eine kleine, rundliche Frau, ganz sicher die „Herrin“ des Hauses, nimmt sich meiner an. Führt mich hinter ihren Tresen. Ich soll selbst mal schauen, was ich so brauche. Ich zücke den Googleübersetzer. Tippe das Wort „Wein“ ein, halte ihr die albanische Übersetzung vor die Nase. Mit zusammengekniffenen Augen studiert sie das Display. Ihr Gesicht erhellt sich bei der Erkenntnis. Vere? Vere, Vere nicke ich eifrig. Sie verschwindet, kommt zurück mit einer völlig verstaubten Flasche Rotwein. Merlot, lese ich und irgendetwas mit Albanien. Kostet 500 LEK (5,00 Euro). Okay, gekauft. Sie stellt sie auf den Tresen neben das kleine Matheheft, in dem sie alles sorgfältig zusammenzurechnen scheint. Ich lege eine Packung Spaghetti dazu und zwei Flaschen Wasser.

Weiter geht’s. Ich tippe das Wort „Käse“ ein. Sie liest, erkennt, läuft eilig los und holt ein Päckchen Schafskäse. Rauf damit auf den Haufen. Nun die schwerste Aufgabe. „Tomate“ gebe ich ein. Reiche ihr zögerlich mein Telefon. Ich bin ziemlich hoffnungslos. Wo will sie denn hier in dieser Rumpelbude noch Tomaten herzaubern. Sie murmelt leise das Wort „Domate“ und sieht mich ungläubig lächelnd an. Ob ich sie jetzt ernsthaft frage, ob sie Tomaten hätte, scheint ihr Blick mich zu fragen. Ja, ist ja schon gut, denke ich verschämt, war ja nur eine Frage. Dann gibt es eben nur Nudeln mit Schafskäse. Und dann passiert das Wunder. Sie wühlt unter ihrer Theke, zottelt eine Plastetüte heraus, hakt mich beherzt unter. Ejani, ejani (Komm! Komm!) wiederholt sie mantramäßig und führt mich durch eine kleine Hintertür in ihren Garten. „Domate, domate“, alles voll davon. Und sie fängt an einzupacken. Erst Tomaten, dann... ejani, ejani, gehen wir weiter zu den Gurken, dann kommen die Paprika an die Reihe. Der Beutel ist schon berstend voll mit allerfeinstem Gemüse, da greift sie beherzt in einen Baum und lädt sich die Schürze voll Birnen. „Das ist alles mein Gemüse, das habe ich selber angebaut“, sagt sie mit Stolz in der Stimme. Und man muss nicht Albanisch können, um zu verstehen, was sie meint.

Zurück im dunklen Kabuff lege ich den großen Beutel auf den Tisch zu Wein, Nudeln, Käse und Wasser. Mal sehen, was der Spaß kostet. Brüsk schiebt sie die Tüte beiseite. Dafür will sie kein Geld. Das kommt von ihr. Immer wieder tippt sie sich mit der Hand auf die Brust. Das ist ein Geschenk.

Und diese Gabe war nur eine von vielen an diesem Tag. Auf heißer Landstraße hält ein funkelnagelneuer, schwarzer Mercedes neben uns. Eine richtige Protzkarre. Ein Fenster wird heruntergelassen. Ein junger Mann mit vielen Tätowierungen und Goldkettchen reicht uns zwei kleine, eiskalte Wasserflaschen heraus.

„Hier, ihr habt doch bestimmt Durst.“

Klar, haben wir. Schwupps weg ist er. Reifen quietschen. Auf einem staubigen Feldweg nähert sich uns ein Auto. Wieder ein Mercedes. Alt und klapprig diesmal. Dass die Karre überhaupt noch fährt. Zwei alte Leutchen darin. Scheibe wird heruntergeleiert oder geht vielleicht gar nicht mehr zu. Zwei dicke Äpfel wechseln den Besitzer. Auch den zweiten Café des Tages müssen wir nicht bezahlen. Werden eingeladen, in einer kleinen Bar in irgendeinem Kaff. Warum? Wir wissen es nicht. Mindestens ein Auto hält täglich, um uns ein Stück des Weges mitzunehmen – ungefragt. Und dann ist noch der Typ, der uns in sein Haus einladen wollte, um uns Essen und Trinken zu geben. Und alles völlig selbstlos. Man erwartet keine Gegenleistung. Selbst überschwänglicher Dank scheint überzogen. Sie sehen, wie sehr wir überrascht sind und wie sehr wir uns freuen. Vielleicht ist es ihnen Lohn genug? Vielleicht. Vielleicht muss man aber auch nicht immer alles versuchen zu verstehen. Man würde ja das Wunder entzaubern, dessen Wesen geheimnisvoll ist. In unserem Fall ist es das albanische Wunder.