Von Lezhe nach Fushe Milo
Das soll er sein? Der irre Enver? Ich betrachte ungläubig eine schwarz-weiße Fotografie von Enver Hoxha (gesprochen Hodscha).
Verträumte braune Augen blicken mich fragend an. Ich schaue in weiche Gesichtszüge. Ein feines Lächeln umspielt volle Lippen. So stelle ich mir einen verträumten Schöngeist vor, einen schwebenden Phantasten. Vielleicht noch einen liebevollen Großvater, der spannende Geschichten von früher erzählt. Nicht doch aber einen Diktator?
Ich lese: „Von 1944 bis 1985 führte Enver Hoxha das kommunistische Albanien mit eiserner Hand. Er machte es zum absurdesten Regime ganz Europas.“
Wie der Schein doch trügen kann. Ich lese weiter, tauche ein in Envers Welt.
Geboren wurde er im albanischen Gjirokaster. Nicht arm, nicht reich war die Familie und Menschen, die ihn damals kannten, schilderten ihn als mittelmäßigen jungen Mann ohne besondere Talenten oder Fähigkeiten. 1930 ging er nach Frankreich, um Botanik zu studieren. In Montpellier tat er sich nicht als besonders fleißiger Student hervor. Ein Stipendium des Staates Albanien musste er wegen mangelnder Leistungen zurückzahlen. Nach sechs Jahren in Westeuropa kehrte Enver Hoxha 1936 nach Albanien zurück und wurde Lehrer an seiner alten Schule. Nach einigen unauffälligen Jahren zog er 1939 mit Beginn der italienischen Besatzung nach Tirana und eröffnete einen Tabakladen. Und dann wird alles schleierhaft. Wie auch immer es möglich war: Nur zwei Jahre darauf war Enver Hoxha plötzlich ein führendes Mitglied der kommunistischen Widerstandsbewegung Albaniens. Im Jahr 1943 wurde er gar der Vorsitzende der Kommunistischen Partei. Und ein Jahr darauf – nach dem Abzug der letzten deutschen Besatzer – Ministerpräsident Albaniens. Ich lese einen Zeitzeugenbericht. Ein alter Schulfreund lies folgendes verlauten: „Ich war der erste, der spottete und darüber lachte, dass Enver, den ich so gut kannte und der bis 1940 nie auch nur ein Wort über den Kommunismus verloren hatte, jetzt der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei sein soll. Ich habe darüber gelacht. Ich konnte ja nicht wissen, als wie bitter sich dieses Lachen herausstellen würde.“
Wenig später war er tot. Und auch ich kann mir kaum vorstellen, wie aus einem unauffälligen, durch und durch mittelmäßigen verkappten Lehrer ein Teufel wird, der 2,5 Millionen Albaner in Armut und Isolation stürzt. Welche Fäden laufen in solch fatalen Momenten zusammen? Die nächsten Jahrzehnte sind schnell erzählt. Zunächst gab es Bündnisse mit Tito und Stalin. Angeblich wurde im Föderationspalast in Belgrad schon Platz für eine siebente Republik gemacht! Dieser Plan wurde nur dadurch zerstört, dass der jugoslawische Präsident Tito und Stalin just im selben Monat aneinandergerieten und sich voneinander distanzierten. Hoxha stellte sich in diesem Konflikt hinter Stalin und die Sowjetunion. Mit Stalin konnte er wunderbar. Nicht jedoch mit seinem Nachfolger Chruschtschow.
Der machte nämlich gleich einiges, was dem Stalin-Verehrer in Tirana bitter aufstieß. Zuerst besuchte Chruschtschow 1955 Belgrad, dann distanzierte er sich im Jahr darauf auch noch (halb-)öffentlich vom verstorbenen Stalin und dem Stalinismus. Dabei hatte Enver Hoxha doch gerade erst den Stalinismus als Ideologie für sich entdeckt! Er tat also, was er immer tat, wenn ihm etwas nicht passte. Er wandte sich ab von der Sowjetunion und ließ pro-sowjetische Kommunisten im Lande verfolgen. Um das Jahr 1960 näherte sich Hoxha dann China an, das er als verlässlicheren Partner in der kommunistischen Welt ansah. Er besuchte China kein einziges Mal, geschweige denn, dass sich Mao Zedong auf den Weg nach Tirana gemacht hätte. Als sich China in den späten Siebzigern dann auch zu öffnen begann, kam für Hoxha endgültig die Zeit, auch diese Beziehung zu beenden. Für die letzten zwölf Jahre des Regimes war Albanien in der Welt vollkommen isoliert.
Bis zu 10.000 Albaner starben während der kommunistischen Gewaltherrschaft Enver Hoxhas. Verfolgt wurde jeder Dritte. Heute dürfen die Bürger nach deutschem Vorbild ihre Akten des gefürchteten Sigurimi-Geheimdienstes einsehen.
Als der Diktator 1985 starb, war er das einzige verbliebene Gründungsmitglied der Partei. Alle anderen wurden hingerichtet oder verschieden auf mysteriöse Art und Weise. Jeden hat er aus dem Weg geräumt, der seine Allmacht in Frage stellte.
Unsere heutige Tour war landschaftlich wenig reizvoll, eigentlich eine üble Latsche. Partiell auf dem Standstreifen der Autobahn. Menschlich hingegen spektakulär. Immer wieder werden wir angesprochen und befragt. Woher? Alte Männer auf klapprigen Fahrrädern bremsen mitten auf der Straße. Gjermanisht (aus Deutschland)? Ja, ja, gjermanisht, antworten wir. Gjermanisht – gut! Kommt die Antwort und Hände und Körper strahlen vor Begeisterung. Ein alter Ford hält neben uns. Der Fahrer, Typ Bauer rund und knuffelig, will uns unbedingt ein Stück mitnehmen. Wir können ihm diesen Wunsch nicht abschlagen. Also Rucksäcke runter, rein ins klapprige Auto und ab geht es. Er plappert munter und fröhlich irgendetwas, was wir nicht verstehen, aber es ist bestimmt nur Gutes. Rieche ich da eine kleine Rakifahne?
Die Krönung kommt beim Abendessen, in einem echten albanischen Restaurant. Der Hausherr bringt uns tellerweise Essen, welches wir nicht bestellt haben. Geschenke! Er ist ganz vernarrt in Robert. Umarmt ihn, knuddelt ihn. Klopft ihm immer wieder auf die Schulter. Gjermanisht – gut!