109. Etappe

Von Mjedë nach Troshan

 

Stallgeruch liegt in der Luft. Eindeutig. Und das hat nur zum Teil damit zu tun, dass wir nun schon seit geraumer Zeit an Kuhställen vorbeiziehen. Hier hat allerdings schon lange keine Buntgescheckte mehr Muh gemacht.

Leer sind die großen Tierbehausungen. Die Wirtschaftswege zugewuchert. Dächer brechen ein, Silagebehälter rosten vor sich hin. Gewohnte Trostlosigkeit säumt unseren Weg. Das kennen wir aus Mecklenburg. Die Zeit des kollektiven Wirtschaftens ist vorüber. Nicht nur hier, überall im ehemaligen Ostblock.

Stallgeruch. Vertraute, traurige Geschichte. Von großen Ideen, die krachend scheiterten. Die uns geformt und geprägt haben. Nachhaltig. Und in denen wir vereint sind, bis heute.

Schon immer waren mir meine Musikerkollegen aus Bulgarien und Rumänien vertrauter und näher als die junge, engagierte Oboistin aus Wiesbaden oder der frankophile Kontrabassist aus dem Würtembergischen. „Wessis“ oder „Besserwessies“ nannten wir sie abwertend. Wir, die vermeintlichen Verlierer der Geschichte.

Zu denen hat man uns gemacht. Gewinner schreiben Geschichte. In trostloser Monotonie sollen wir gelebt haben. Grau war angeblich unser Alltag und uniformiert. Unterdrückte des kommunistischen Regimes, zu lebenslangem Duckmäusertum verbannt. Sagt man. Und nun erhebe mal zaghaft die Stimme und sage: „Die Wiese hinter meinem Haus war nicht grau, sondern sehr grün. Und mein Leben spannend und voll von phantasievollen Improvisationen!“

Sag es nicht! Du starrst in entsetzte Gesichter. Willst Du hier etwa die DDR schönreden? Sie war ein Unrechtsstaat. Bist Du eine von den Ewiggestrigen?

„Nein, bin ich nicht Hähni!“, rufe ich zornig. Jetzt sind wir in eine ganz schön wilde Diskussion geraten. Ist das schon Streit?

„Lass uns doch mal den Spieß umdrehen“, agitiere ich meinen Partner. „Lass uns mit der These arbeiten, dass nicht der Mangel, das Redeverbot und die Begrenztheit uns zu beschränkten Menschen geformt hat, uns alle auf dieselbe Art und Weise. Sondern die glückliche Abwesenheit des Kapitalismus dafür gesorgt hat, dass wir unsere naive Unschuld behalten konnten.“ Knapp 40 Jahre Glückseligkeit zu einem viel, viel zu hohen Preis.

„Die größte Tragödie“, postuliere ich, während mein Schritt schneller und schneller wird, „und letztendlich unser aller Untergang, ist der Turbokapitalismus, in dessen Fesseln die Freiheit darin besteht, zu wählen, womit man sein Geld verdient und darin, für was man es schnellstmöglichst wieder ausgibt. In changierenden Farben schillernde Krake.“ Cchrrrrrr. Bin ich wütend.

„Huhni, mach mal nen Punkt. Reg Dich ab. Das bringt doch alles nichts,“ besänftigt mich mein kluger Hahn. Zupft mich am Ärmel. Ich komme zum Stehen.

„Okay.“ Ich seufze tief, atme durch, nehme aber den Faden wieder auf.

Naive Unschuld war es, die Albanien in eine Krise führte, die sich im Lotterieaufstand entlud. Nachdem auch hier 1990 das kommunistische Regime zusammenbrach, stabilisierte sich in den folgenden Jahren allmählich die wirtschaftliche Situation. Die Leute kamen zu Geld, was auch damit zu tun hatte, dass die Ausgewanderten die Scheine nach Hause schickten. Das Bankensystem glich einem Gerippe und so landete die Kohle unter den Kopfkissen und in den Nischen der Mauern.

Und dann kamen die Betrüger, um den „Eingeborenen“ das frisch Erworbene abzuknöpfen. Glasperlen gegen Gold. Es ist nicht das erste mal in der Geschichte der Menschheit. Die neue Klasse unerfahrener „Geldbesitzer“ wurde leichte Beute für Schwindler, die all jenen gewaltige Zinssätze versprachen, die in ihre nach dem Schneeballprinzip aufgebauten Systeme einstiegen. Anfangs hielten sie ihre Versprechen und kamen ihren Zahlungsverpflichtungen mit dem Geld der nächsten Welle von Investoren nach. Die Leute wähnten sich als Gewinner. Investierten immer mehr Geld. Verkauften Grundstücke und Häuser, um noch mehr Geld investieren zu können. Der Gesamtwert der Einlagen aller 16 Pyramiden-Firmen summierte sich vor Ausbruch der Krise im Frühjahr 1997 auf 1,2 Milliarden US-Dollar. Das entsprach damals 50 Prozent des Bruttosozialproduktes. Das meiste Geld wanderte in die Taschen der Firmeninhaber. Und es kam, wie es kommen musste. Das Kartenhaus stürzte zusammen. Ende 1996 meldeten fast alle der Pyramidenfirmen Konkurs an. Aus der Traum. Das Geld war futsch. Der Zorn unfassbar. In der südalbanischen Stadt Vlora kam es zu ersten Massenprotesten, die schnell gewalttätig wurden und sich auf den Süden des Landes und dann auf den Rest Albaniens ausdehnten. In Südalbanien brach die öffentliche Ordnung vollständig zusammen, da die Aufständischen militärische Lager plünderten und sich mit Schusswaffen ausrüsteten. Militär und Polizei waren meist auf der Seite des Volkes und gingen deshalb nicht oder nur halbherzig gegen die Protestierenden vor. Wahrscheinlich hatten auch sie ihr gesamtes Geld verloren. Die Wut und Enttäuschung der Menschen richtete sich aber nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen Geschäfte und staatliche Einrichtungen wie Archive, Schulen und Hotels. Das Fehlen der Staatsgewalt wurde schnell von vielen kriminellen Banden ausgenutzt, die plünderten oder sich zu Lokalherren ernannten.

Am 16.03.1997 titelt der Spiegel: Albanien, Selbstmord einer Nation.

Mittels Neuwahlen und der Hilfe ausländischer Truppen, zusammengefasst unter dem Namen „Operation Alba“, konnte die öffentliche Ordnung schließlich wieder hergestellt werden.

Die Verbindungen zwischen organisierter Kriminalität, Politik und den Pyramidenfirmen sind bis heute nicht geklärt. Und kein einziger der Verbrecher wurde je zur Rechenschaft gezogen.

Wir mögen dieses Land und seine Menschen. 20 Kilometer gehen wir heute durch belebte, ländliche Gegend. Es gibt keine toten Dörfer hier. Die Menschen arbeiten auf den Feldern und in den Gärten. Jede Herde Vieh hat einen Hirten. Kleine, altersschwache Traktoren und klapprige Pferdewagen transportieren Dinge. Die Autofahrer sind rücksichtsvoll. Bremsen, weichen aus, hupen freundlich. Wir treffen hunderte Menschen und werden genauso oft herzlich gegrüßt. Ein gutes Gefühl.