107. Etappe

Von Shiroke nach Shkodra

Heute sind wir weitergezogen. Wir haben uns ausgeruht, neue Ziele festgelegt und grundsätzlich die Strategie geändert.

Albanien im Kriechgang – das ist die neue Arbeitshypothese und folgende Faktoren flossen in unsere Entscheidung ein:

1. Wir haben einen Termin. Einen ganz wunderbaren, auf den ich mich unheimlich freue, seitdem die Idee für diese Reise geboren wurde. Wir treffen uns mit den Kindern auf Korfu. Machen eine Woche Urlaub mit Hanna und Jakob. Wollen das Untätigsein genießen und freuen uns auf die beruhigende Wirkung, die liebe, vertraute Menschen auf uns haben. Ein Stück Heimat kommt zu uns. Wir haben eine Reisegruppe gegründet, eine Videokonferenz abgehalten und uns für den 20. August verabredet. Gestern haben wir die Albanien-Karte gewälzt. Vom nördlichsten Punkt Shkodra bis zur südlichsten Hafenstadt Saranda sind es etwas mehr als 300 Kilometer und wir haben geschlagene vier Wochen Zeit. Vier Wochen für 300 Kilometer. Das bedeutet, wenn wir jeden Tag etwas mehr als 10 Kilometer gehen, kommen wir locker Ende August dort an. Wir sind baff.

2. Jetzt beginnt die wirklich heiße Periode in diesem Land. Die Hitzewelle von letzter Woche war nur der Anfang. Sie kam ungewöhnlich früh. Jetzt wird die Hitze normal und deshalb nicht weniger heiß. Unter diesen Bedingungen ist die Politik der kleinen Schritte absolut sinnvoll.

3. Wir sind in einem Land angekommen, in dem es sich Antiquare und freischaffende Musikerinnen gut leisten können, zu verweilen. Während wir in Österreich unter den Preisen stöhnten und Gas gaben, um die Belastung des Geldbeutels in Grenzen zu halten, werden wir hier guten Gewissens bleiben, weil eben alles nur noch die Hälfte kostet. Für eine hochwertige, gepflegte Unterkunft bezahlt man 35 Euro und meistens ist noch ein Frühstück dabei, von dem man den ganzen Tag zehren kann. Obst und Gemüse und auch alle anderen Lebensmittel, die die Leute von ihren Höfen in die Stadt tragen um sie zu verkaufen, sind von allerhöchster Qualität und beschämend billig. Wozu also die Eile.

4. Gerade über die Grenze gekommen, ploppen die interessanten Themen auf wie Maiskörner in der Fettpfanne. Was wissen wir über den Lotterieaufstand in den 90ern? Warum stehen hier so viele Bunker? Warum brach das Albanien des Enver Hodscha 1968 mit der Sowjetunion und verließ Knall auf Fall den Warschauer Pakt (der eigentlich keine Austrittsmöglichkeiten vorsah) und den RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe)? Seit wann gibt es Albanien überhaupt? Wie steht es mit dem großen Osmanischen Reich, dessen Herrscher ein Sultan war, und wie leben hier eigentlich Sinti und Roma? Warum fahren so viele Menschen Fahrrad, wie können die Leute leben von ihrer kleinen, untechnisierten Landwirtschaft? Welche Spuren hat die Zeit des „Kommunismus“ hinterlassen?

Wir haben Zeit, Zeit, Zeit. Was für ein Glück. Behutsam können wir uns den Fragen nähern, den Menschen, dem Land. Können erleben, beobachten, hinterfragen und sind mit Sicherheit am Ende ein bisschen klüger.

Unser Kriechgang beginnt gleich heute gegen neun. Wahnwitzige sechs Kilometer stehen auf unserer Uhr. Wir gehen nach Shkodra, der größten Stadt im Norden Albaniens. Ein paar letzte Kilometer folgen wir noch dem vertraut gewordenen Ufer des Skadarsees und überqueren dann den Fluss Buna, der den See ins Meer entwässert. Auf unserer Seite des Ufers, direkt an der Brücke liegt eine Siedlung von Ashkali- oder Balkanägyptern. Roma-Angehörige, die ihre Herkunft auf Migration im Zuge der Hannibalfeldzüge zurückführen. Ich traue meinen Augen kaum, als wir auf der neu gepflasterten Uferpromenade mit Schwung die letzte Kurve nehmen und auf einmal ein Pferd am Straßenrand steht. Hühner laufen ziellos herum. Allerärmlichste Behausungen, selbst das Wort Hütte wäre übertrieben, kleben übereinander am Berg. Schmutzige Kinder sitzen halbnackt auf der Straße und spielen Karten, Frauen hocken an der Brücke und verkaufen etwas. Was denn eigentlich? Alte Schuhe, abgetragene Lumpen, die einst Kleidungsstücke waren. Männer fläzen breitbeinig in Liegestühlen. Zähne hat hier kaum einer, auch nicht die jungen Menschen. Arm wirkt das, sehr arm. Wir durchlaufen das Elend, werden kaum beachtet. Man ist vollständig unter sich, hier an diesem Straßenrand der Gesellschaft. Die dicken Autos der wohlhabenden Städter, die zum Essen oder zum Baden nach Shiroka fahren und die ihnen die Abgase ins Gesicht pusten, Touristen auf ihren geliehenen Fahrrädern mit dem selben Ziel, die sie anstarren, oder bekloppte Wanderer mit Rucksack. Wir sind ihnen nur physisch nah, wir gehen sie überhaupt nichts an. Nicht hier in ihrem Dorf.

Hinter der Brücke ist der Spuk vorbei. Wir gehen auf einer schattigen Promenade. Café reiht sich an Café. Sie sind gut besucht, selbst an einem Mittwochvormittag, Kinder spielen fröhlich Fangen, Obst und Gemüse wird angeboten, in den Bunawiesen weiden Kühe.

Kurz vor unserer Unterkunft erwischt es mich noch einmal kalt. Auf der Straße sitzt eine ärmlich gekleidete Frau. Sie wirkt uralt und ihr schwangerer Bauch irritiert mich. Auf ihrem Schoß liegt ein kleines Mädchen. Sie kommen bestimmt von der anderen Seite der Brücke. Als sie uns wahrnimmt, bekommt die Kleine einen Schupps, springt auf wie von der Tarantel gestochen und nimmt forsch Kurs auf mich. Barfuss springt sie auf kleinen Füßen über heißen Asphalt. Das Haar verfilzt. Ronja Räubertochter kommt mir in den Sinn. Kurz vor mir bremst sie ab, wendet und ist nun dicht an meiner Seite. Ihr kleiner magerer Körper schmiegt sich ganz dicht an meinen und sie jammert leise: „Mama Baby, Mama Baby.“ Dabei sieht sie mich aus ihren dunklen Augen so innig an, dass ich kaum den Blick von ihrem kleinen Gesicht wenden kann. Und das Mündchen formt inbrünstig immer wieder die Worte „Mama Baby, Mama Baby.“ Ich lege ihr meine Hand auf das pechschwarze Haar, sie geht mir kaum bis zur Hüfte.

„Mensch Kleine“, denke ich, „du machst das wirklich hervorragend. Das ist eine schauspielerische Glanzleistung, die Du hier erbringst. Ich sehe, Du ziehst jedes Register, gehst in die Vollen. Bist bereits jetzt eine Meisterin Deines Faches. Aber ich weiß noch nicht, ob es richtig und gut ist, Dir ein paar Münzlinge in dein schmutziges Händchen zu legen. Es wäre bestimmt besser, Du gingest zur Schule, als hier auf der Straße Geld zu verdienen. Es wäre besser, Du lägest am Abend in einem sauberen Bettchen und jemand würde dir eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen. Ich weiß auch noch nicht, wie ich zu der Idee des Bettelns als Hauptbroterwerb stehe. Und ich weiß auch noch nicht, warum meine Werte Deine sein sollten und Du so leben solltest, wie ich es für gut und richtig halte. Ich muss noch nachdenken, liebe Kleine. Sei nachsichtig mit mir.“