Von Livari nach Ckla
Montenegro. Mon-te-ne-gro – denke ich zärtlich und lasse mir jede Silbe auf der Zunge zergehen. Hohe, geheimnisvolle Berge, azurblaues Meer, einfaches Leben, nie gekannte Gastfreundschaft, bescheidene Freundlichkeit und ein See aus den Tränen einer Fee. Morgen ziehen wir weiter. Nehmen Abschied, nicht mit Tschingdarassabumm und auch nicht durch die Passkontrolle. Wir schleichen uns hinaus, auf schmalem Pfad entlang des Skatarsee. (Na, wenn das mal gut geht. Ich bin da skeptisch.)
Knapp zehn Tage durften wir hier sein. Zehn Tage, die sich anfühlen wie Wochen oder Monate. Aus ängstlicher Unsicherheit vor Unbekanntem ist Liebe geworden. Liebe zu Land und Leuten. Mit großer Wahrscheinlichkeit werde ich nie hierher zurückkommen. Mit absoluter Sicherheit bleibt dieses kleine Land für immer in meiner Erinnerung. Ach was schreibe ich da. Ein Stück von mir bleibt einfach hier.
Nach erholsamer Nacht auf 600 Metern ziehen wir in aller Frühe weiter. Es geht uns besser. Die kleine Flasche Rotwein, frühes Zu-Bett-Gehen und der kühlende Nachtwind, der unser Häuschen durchschlich, haben Wirkung gezeigt.
Eine letzte Etappe spazieren wir lustvoll auf dem Panoramasträßchen Nr. 3. 18 Kilometer und fast ausschließlich bergab. Heute durch einen jahrhundertealten Kastanienwald. Knorrige Baumriesen mit bemooster, buckeliger Rinde und verknotetem Geäst raunen Geschichten aus vergangenen Zeiten. Was sie wohl alles schon gesehen haben?
Und ein neues Thema öffnet sich. Der Tabak. Rechts und links des Weges Tabakfelder und kleine Verkaufsstände, an denen man nun nicht mehr selbstgemachten Wein oder Obst und Gemüse erwerben kann, sondern getrocknete Tabakblätter. Schade, dass ich vor 20 Jahren aufgehört habe zu rauchen. Ich würde hier jetzt glatt eine schmökern. Der Tabakanbau auf dem Balkan ist umstritten. Er wird stark subventioniert und ein unverhältnismäßig hoher Betrag fließt in diesen Teil der Landwirtschaft im Vergleich zu Viehzucht, Obstplantagen, Milchwirtschaft sowie dem Anbau von Feldfrüchten und Gartenbauerzeugnissen. Tabakbauern im Land verdienen weniger als das durchschnittliche Monatsgehalt und der mit dem Tabakanbau verbundene hohe Arbeitsaufwand bedeutet, dass sie den größten Teil ihres Tages damit verbringen, sich um die Pflanzen zu kümmern. Die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Auswirkungen des Tabakanbaus sind gravierend. Die Bauern und ihre Familien leiden unter den Folgen einer Nikotinvergiftung durch Tabakstaub, wodurch auch die Gesundheitskosten der betreffenden Haushalte steigen. Zu den durch den Tabakanbau verursachten Umweltschäden zählt auch der irreversible Verlust kostbarer Rohstoffe. Wälder, Pflanzen und Tierarten werden durch den Verlust von Lebensraum bedroht, wenn Land für den Tabakanbau gerodet wird. Tabak verringert die Fruchtbarkeit des Bodens und erschwert damit den Anbau von Kulturpflanzen für die Nahrungsmittelproduktion. Darüber hinaus werden für den Tabakanbau große Mengen chemischer Dünger genutzt, die in nahegelegene Wasserquellen sickern und dort zu Fischsterben führen und das Trinkwasser für Menschen und Tiere gleichermaßen verunreinigen. So trügerisch kann Idylle sein.
Auch heute staunen wir wieder darüber, wie sich die Dinge um uns herum verändern. Fließend gehen sie in einander über. Unsere Reisegeschwindigkeit von nur vier Kilometern pro Stunde erlaubt es gerade noch, sie wahrzunehmen, zu durchschreiten, zu erleben mit allen Sinnen. Kirchtürme werden klammheimlich abgelöst von Moscheen. Alte Frauen tragen lange Kleider und Kopftücher. Kühe werden am Strick auf der Straße hinter sich hergeführt, die Hintergrundmusik im Café klingt ungewöhnlich, Friedhofsmauern umfangen uns, unbekannte Grabstätten und eine neue, noch nie gehörte Sprache schleicht sich ein. Wir nähern uns Albanien.
Zum Abschied habe ich noch eine montenegrinische Fee getroffen. Ich weiß nicht, ob es die ist, die den Skadarsee verbockt hat. Ich sitze alleine in einem Café direkt am See, Robert ist auf Erkundungstour an der montenegrinisch-albanischen Grenze. Ich trinke ein Glas Weißwein. In meinem Rücken tafelt eine Großfamilie. Viele kleine, marodierende Kinder werden gnadenlos mit Händies ruhig gestellt. Ein aufgeregtes, lautes Gespräch umsummt die Meute. Was das wohl für eine Sprache ist? Ich rätsele. Nicht ein einziges Wort erkenne ich. In meine Gedanken hinein, wird mir sanft auf den Rücken getippt. Ich drehe mich um zu der jungen Frau, die in meinem Rücken sitzt und auch Teil dieses wilden Haufens ist. Sie ist wunderschön. Dunkle Haare umrahmen ihr ebenmäßiges Gesicht. Ich schaue in große, braune Augen. In feinstem Englisch fragt sie mich zögernd, ob ich schon einmal hier gewesen sei, an diesem Ort. Ich schüttele bedauernd den Kopf. Nein, ich war noch nie hier.
„Merkwürdig“, erwidert sie, „Ich habe das Gefühl wir kennen uns.“ Und dann schiebt sie zu meinem Erstaunen nach: „Die Sprache in der wir miteinander sprechen, ist Albanisch. Das wolltest Du doch wissen, oder?“