103. Etappe

Von Virpazar nach Seoca

„Wenn er mich heute Nacht fragt, sage ich nicht Nein!“ denke ich verschämt entschlossen, während ich den attraktiven Endfünfziger am Nachbartisch beobachte. Groß ist er und schlank, trägt eine lässige Schiebermütze und kaut lautstark auf einem Kaugummi herum. Die Backenmuskulatur arbeitet. Irgendwie verwegen der Typ. Er steht an unserem Nachbartisch, gestikuliert und spricht laut auf eine kleine Gruppe Rumänen ein. Dass diese jungen Leute aus Rumänien kommen, habe ich nach wenigen Minuten freudig herausgehört. Da kenne ich mich aus. Etwas impulsiv waren sie, aber die Meister im Feiern, wie meine vielen rumänischen Musikerkollegen in den kleinen Orchestern im ehemaligen Osten Deutschlands. Auf Tischen haben wir getanzt. Aber das wollte ich ja gar nicht erzählen.

Er versucht, ihnen eine Bootsfahrt auf dem Skadarsee aufzuschwatzen. Und wie er das macht. Ich bin fasziniert. Den ersten Abwimmelungsversuch – die Rumänen teilen mit, dass sie morgen bereits abreisen – kontert er galant. Ganz früh könne man los. Am besten schon um 5:00 Uhr. Dann erwacht die Natur, es ist noch kühl und der frühe Morgen ist die allerbeste Zeit, um die vielen Wasservögel zu beobachten. Und nach der zweistündigen Fahrt, gegen sieben, gäbe es ein Frühstück, hier im altehrwürdigen Restaurant Pelikan. Die Stunde kostet zehn Euro und dann noch fünf Euro Eintritt für den Naturpark, aber die würde er ja gar nicht bekommen und im übrigen wäre das Frühstück hervorragend.

Ich lecke Blut, obwohl er ja gar nicht mich versucht zu überzeugen.

„Hähni, stell Dir vor, wir tuckern in einem von diesen winzigen Booten im Morgengrauen über den See. Fahren durch ein Meer aus Seerosen, umrunden kleine Inseln mit pittoresken Kirchlein, beobachten Pelikane, Kormorane und den berühmten Skutari-Wasserfrosch wie er vom dicksten Blatt einer Seerose ins Wasser hüpft. Hähni, ich will das auch“, schmachte ich meinen wenig interessierten Tischnachbarn an.

„Alles Nepp“, murmelt der Weitgereiste, „die fahren Dich einmal auf den See raus und das Frühstück ist ein eingeschweißtes Hörnchen und ein lausiger Kaffee und vielleicht haben sie das mit dem Frühstück morgen auch schon wieder vergessen.“

Die Meute am Nebentisch murrt. Um fünf? Wer will denn schon um fünf aufstehen? Jetzt ist es immerhin schon nach 22:00 Uhr und die zweite Flasche Wein wird gerade entkorkt. Er erkennt die Lage. Es müsste gar nicht um fünf sein. Man könnte auch um sechs, um sieben, halb acht, um neun? Er fragt das förmlich ab und durchforstet den Blick seiner Kunden nach möglichen Reaktionen. Ob man auch baden könnte, vom Boot in den See springen? fragt die kleine Brünette. Natürlich, was für eine Frage.

„Hähni, ein erfrischendes Bad in aller Frühe vor der traumhaften Kulisse der Berge. Ein Sprung, kopfüber vom Boot in den blaugrünen See. Hähni, wenn er als nächstes an unseren Tisch kommt und uns dieses Angebot unterbreitet, dann sage ich nicht Nein. Du musst ja nicht mit, ich fahre auch alleine“, entscheide ich.

Am Nebentisch wird man sich einig. Drei der Gäste kaufen sich eine Fahrkarte. Man hat sich auf eine Abfahrtszeit geeinigt. Um sieben soll es losgehen. Und dann, ich hatte es kaum gewagt zu hoffen, tritt er an unseren Tisch. Wie gut er aber auch aussieht. Ich setze mich ganz aufrecht und gerade hin und noch ehe er die Stimme erhebt, höre ich mich sagen: Ich habe genau zugehört, ich bin voll informiert. Ich nehme die Tour um fünf.

„Um fünf?“ fragt er mich ungläubig. „Um fünf? Was willst Du um diese Zeit auf dem See? Alle Wasservögel schlafen noch und die Knospen der Seerosen sind geschlossen. Die beste Zeit um auf den See zu fahren ist um sieben am Morgen.“ Ich handele noch ein bisschen. Ob es nicht um sechs ginge? Allein, er bleibt dabei. Um sieben ist die beste Zeit. Ich löse ein Ticket und auf einmal will Robert auch mit. Er könne mich schließlich nicht alleine lassen und Eindrücke und Erlebnisse müsse man ja teilen. Na, mir soll es Recht sein. Ich freue mich sehr darauf.

Die Schifffahrt war wunderschön. Ganz pünktlich geht es los. An Bord gehen nur die drei jungen Rumänen vom Nebentisch gestern Abend und wir. Unser Kapitän ist nicht der schmierige Verkäufer von gestern Abend. Was so ein bisschen Alkohol aber auch anrichtet. Er ist vom Typ Mensch, der mir hier seit unserer Ankunft ins Auge sticht. Ruhig und zurückhaltend, entwaffnend freundlich, auf ernsthafte Weise fröhlich und von einem Hauch Melancholie umweht. Wir schippern durch einen Schilfgürtel, quer über den See. Unterqueren die Brücke, auf der die Hauptachse des Landes zwischen der Hafenstadt Bar und der Hauptstadt Podgorica verläuft. Fahren ein Stück in die Mündung des Morača hinein, der Fluß, der den See speist. Biegen ab, finden durch Urwald wieder zurück auf das offene Wasser. Umrunden kleine Inseln, tuckern entlang unbewohnter Ufer. Kleine Fischerboote überholen uns. Unser Bootsführer wechselt mit jedem ein Wort. Alle kennen sich hier.

Und dann folgt die Attraktion des Tages. Wir nähern uns im Schleichgang einer großen Gruppe Wasservögel. Pelikane, Kormorane, Fischreiher. Der Kapitän gibt mir flüsternd zu verstehen, ich solle mich vorne auf den Bug stellen. Ich? Warum? Geh! Los! Insistiert er. Ich tue,  wie mir geheißen, habe das Händie dabei. Vielleicht gelingt es mir, den fetten Pelikan vor die Linse zu bekommen. Und kaum bin ich angekommen, gibt er Vollgas und wir rasen in das Vogelmeer und rauschend erhebt sich alles Gefiederte in die Lüfte. Es teilt sich wie eine Bugwelle vor meinem Gesichtsfeld. Das ist unfassbar beeindruckend und unfassbar unanständig. Ich drehe mich lachend um. Hast Du nicht alle Latten am Zaun, rufe ich ihm fröhlich und ohne ein einziges Wort zu sprechen, zu. Er zwinkert mir zu und lacht auf umwerfend montenegrinische Weise.

Pünktlich um neun sind wir zurück und das Frühstück ist großartig. Ich bin vollständig glücklich.

Auf so einer Fahrt wird kein Adrenalin freigesetzt wie bei einem Fallschirmsprung und auch keine Glückshormone wie nach einer ausgiebigen Shoppingtour durch New York. Und es entsteht auch keine Hochstimmung wie auf einem Ritt durch Berliner Szenekneipen. Wie erhaben doch Unberührtes ist. Wie unaufgeregt ergreifend.