Heute haben wir einen freien Tag, sind neugierig auf die Stadt und guter Dinge, hier etwas über die Geschichte Montenegros herauszufinden. Wir schlafen lange und gut. Gehen ungeduscht auf dem Boulevard um die Ecke einen Kaffee trinken, kaufen köstliche, süße Brombeeren zum Frühstück. Erledigen ein bisschen Bürokram, waschen Wäsche. Das Übliche eben. Gegen Mittag, die Gluthitze schickt sich an, ihren Hammer fallen zu lassen, verschwinden wir im Museum. Die schwere Tür schlägt hinter uns ins Schloss. Es ist dunkel, still und kühl. Wir tauchen ab.
Wir erfahren von den Illyrern, die hier siedelten und von den Barbaren und den Slawen überrannt wurden. Vom ständigen Spannungsfeld zwischen dem sehr westlich orientierten Venezianischen Imperium, das die Küste Montenegros beherrschte, und dem Osmanischen Reich, das das bergige Hinterland verwaltete.
An der vergessenen Grenze der östlichen und westlichen Zivilisation geht das kleine Land verloren zwischen dem Löwen (Venedig) und dem Drachen (Osmanen). Verloren auch in ewigen Stammeskriegen untereinander, gelingt es erst Ende des 18. Jahrhunderts die Kräfte zu bündeln und die Osmanen zurückzudrängen. Im Jahr 1789 wird hier in Cetinje das Allgemeine Gesetzbuch für Montenegro verabschiedet. Es spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung staatlicher Behörden und der Schaffung eines einheitlichen Rechtsbewusstsein unter den Montenegrinern.
Die Osmanen lassen sich nicht so leicht vertreiben. Weitere 100 Jahre gehen ins Land, in denen blutige Schlachten geschlagen werden. Aber Montenegro verfügt mittlerweile über eine gut ausgerüstete Armee und die Bewohner sind sich einig.
Auf dem Berliner Kongress 1878 wird neben Serbien und Rumänien dann auch Montenegro international als Staat anerkannt und ein weiterer Traum geht hier in Erfüllung – Montenegro bekommt Zugang zum Meer. Viel Gutes passiert in den wenigen friedlichen Jahren danach. Straßen werden gebaut, das Bildungs- und Schulsystem wird entwickelt. Das Land hat seine eigene Währung, den Perper, und das modernste telegraphische System Europas. Durch internationale Verträge mit dem osmanischen Reich und Konkordate mit dem Papst wird die Gleichberechtigung aller Religionen im Land gesichert. Eine absolute Errungenschaft. Montenegro ist nun offiziell vor Staat und Gottesgnaden multikonfessionell und multikulturell.
Lange dauert das Glück nicht. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges haben die Siegerländer in Versailles neue Grenzen in Europa gezogen. Es wird
beschlossen, einen Staat südslawischer Nationen unter serbischer Führung zu gründen. Das erste Jugoslawien. Niemand hier ist glücklich damit. Alles Intervenieren der Exilregierung verhallt. Im Zweiten Weltkrieg spielt das Land eine entscheidende Rolle im Volksbefreiungskampf der Partisanen um Tito. Von 23 Mitgliedern des Oberkommandos stammen acht aus Montenegro, was überaus viel ist, wenn man bedenkt, dass der Anteil an der jugoslawischen Bevölkerung gerade mal zwei Prozent beträgt.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges liegt das Land in Schutt und Asche. Zerstörte Städte und Dörfer und 37.000 Tote (10 Prozent der Bevölkerung) müssen betrauert werden. Aber es gelingt Montenegro, auch seine Staatlichkeit zu erneuern. Als gleichberechtigte und förderative Republik wird sie zum Teil des neuen, sozialistischen Jugoslawiens.
In diesem Verbund haben sie sich pudelwohl gefühlt, soviel steht fest. Doch Titos Jugoslawien zerfällt in drei Stufen. Erst verabschieden sich Kroatien und Slowenien. In einer zweiten Welle Bosnien und Mazedonien. Übrig bleibt Restjugoslawien, bestehend nur noch aus Serbien (zu dem damals noch der Kosovo gehört) und Montenegro. Die Entscheidung wird in mehreren Volksabstimmungen getroffen. Und diese Information wird glaubwürdig unterstützt durch die vielen aufgemalten Jugoslawienfahnen, die unseren Wegesrand säumen. Verblasst, aber deutlich sichtbar, prangen sie von Felswänden und Mauern. Mit diesem Volkswillen hat man sich allerdings schuldig gemacht und hier in diesem altehrwürdigen Nationalmuseum steht es schwarz auf weiß. Es wird nichts vertuscht und nichts beschönigt. Montenegros Soldaten haben als Teil der jugoslawischen Armee gemeinsam mit den Serben auf den Hügeln um Dubrovnik gelegen und die alte Stadt in Schutt und Asche geschossen. 2006 erst wird dann in einer weiteren Volksbefragung die Gründung eines eigenen Staates beschlossen.
„Hähni, es kann sein, das Du morgen ohne mich weiter gehen musst“, merke ich vorsichtig an, während wir im Schatten eines riesigen Baumes bei einem Glas Wein unsere Eindrücke auswerten. „Ich denke, ich werde hier übersommern.“ In 700 Meter Höhe ist es merklich milder (nur 33 Grad) und die Nächte sind angenehm kühl. Wir konnten das Fenster sperrangelweit auflassen und frische Nachtluft ließ mich fröstelnd meine Decke über die Schultern ziehen. Keine Mücke weit und breit. Wann hatten wir das denn zum letzten Mal? Es gibt noch mindestens fünf klimatisierte Museen, die ich mir anschauen kann, und ein Kloster. Der alte Gemüsehändler begrüßt mich mit Handschlag, nur weil ich ihm gestern geholfen habe, eine Stiege Himbeeren vom Bürgersteig aufzuheben, die ihm aus den zittrigen Händen gefallen ist. Die Stadt ist sauber, wenig Verkehr, kaum Touristen, dafür jede Menge überaus freundlicher Menschen. Sie schauen mir beim Vorübergehen in die Augen und wir lächeln uns an. Ich glaube, wir kennen uns. Und zwar schon sehr lange.