99. Etappe

Von Pelinovo nach Budva

Und wieder geht es steil bergauf, wieder im Winkel der aufsteigenden Sonne. Wir müssen zurück auf unser Höhensträßchen, an dem wir gestern um ein Haar gescheitert wären.

Es ist früh am Morgen. Wir sind ausgeruht, dank Klimaanlage und dem wunderschönen Garten der Familie Dukic in Pelinovo. Gestern Abend haben wir draußen gekocht unter dem Dach eines schattigen Pavillons, umgeben vom grünsten Grün und Blüten in allen Farben. Eigentlich ist es nur ein Topf Pellkartoffeln, der vor sich hinsimmert, während wir uns unserer abendlichen Statistik des Glückes, dem Kartenspiel, widmen. Es steht 1:0 für Robert schon seit Dubrovnik. Zu den Kartoffeln gibt es einen Salat aus Gurken und Tomaten mit Schmand. Das Gemüse ist unfassbar gut. Ich hatte vergessen, dass Tomaten duften, Gurken Geschmack haben und Kartoffeln dunkelgelb sind und ein bisschen herb schmecken. Warum sich Robert dazu noch hellrosa Würste aus einer Plastikpelle popelt, erschließt sich mir nicht. Zumindest gibt er zu, dass es ein Fehlkauf war.

Gegen 8:00 Uhr haben wir die Reisehöhe erreicht. 350 Meter über NN schlängel wir uns auf holprigem Geläuf durch kleine Dörfer, die nicht mehr sind als Häuseransammlungen entlang der Straße. Es ist schattig, still und kühl. Die Sonne hat es noch nicht über den Berg geschafft. Und die Menschen sind schon wach hier. Nutzen die angenehmen Stunden des Tages, bevor die Gluthitze alles in die Lähmung zwingt. Sie stehen in ihren üppigen Gärten und wässern Gemüse. Trinken Kaffee auf schattigen Balkonen, Toreinfahrten werden gekehrt. Ich grüße jeden, den wir treffen. Dobro utro (Guten Morgen) rufe ich dem zu, der in Hörweite ist. Ich winke in den Gemüsegarten hinein, lüfte meinen Sonnenhut vor der alten Dame da oben auf dem Balkon. Von überall schallt, winkt, lächelt es zurück. Dobro utro Montenegro.

Gelernt ist gelernt. Alles eine Frage der Kinderstube. Auf Dörfern grüßt man sich. Das ist nicht zwingend Freundlichkeit, das ist heilige Pflicht. Ich muss das wissen, ich bin in so einem Kaff groß geworden. Wenn der Matze und ich auf unseren Diamantfahrrädern in den Klettbacher Konsum gerast sind, um uns eine Schlager-Süßtafel zu kaufen. Dabei uns auf der Siedlungsstraße eine Wettfahrt geliefert haben und leider die Frau Hantke auf dem Bürgersteig übersahen. Und sie nur aus diesem Grund nicht gegrüßt haben. Uuhhh, ganz schlecht!

Spätestens am nächsten Tag, beim Abendbrot, sprach dann unsere Mutti in ihrer milden Art und ein Hauch Enttäuschung schwebte in ihrer Stimme: „Kinder, ich habe vorhin die Frau Hantke beim Bäcker getroffen und sie hat mir brühwarm berichtet, dass ihr sie nicht gegrüßt habt. Kinder, da müsst ihr aufpassen, so ein kleines Guten Tag ist doch nicht schwer, sonst heißt es im Dorf noch, die Weidner-Zwillinge kriegen den Mund nicht auf, die halten sich wohl für etwas Besseres. Nur weil die Mutter Lehrerin ist.“ Reuemütig gelobten wir Besserung. Wir wollten sie auf keinen Fall enttäuschen. Nicht die Frau Hantke, sondern unsere liebe Mutter.

Dorfleben: Fluch und Segen. Überall auf der Welt, da bin ich mir sicher. Mensch bleibt Mensch. Freiheit für uns Kinder im ungezwungenen Umgang mit der Natur. Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Sich selbst versorgen können. Eingebettet sein in eine Gemeinschaft, in der jeder auf den anderen achtet. Wehe nur, man ist zugezogen oder irgendwie anders oder man grüßt als Kind nicht die Erwachsenen.

„Hähni, wann hast Du schon mal ein Flugzeug von oben gesehen?“, frage ich in die Stille, die ab und an von einem Grollen durchbrochen wird. „Ich meine nicht, aus dem Fenster des Terminal 1 am Großflughafen in Hannover auf das Luftfahrzeug unter Dir, welches gerade betankt wird, um Dich dann für wenig Geld nach Malle zu bringen. Ich meine ein Flugzeug während des Fluges?“

Eine rein rhetorische Frage. Das hatten wir nämlich beide noch nicht. Heute schon. Wir befinden uns in der Einflugschneise des Flughafens Tivat. Wir auf 350 Metern Höhe und die Flugzeuge schon deutlich tiefer. Nach Passagierzahlen ist er der größte in Montenegro. Sogar noch vor dem der Hauptstadt Podgorica, die früher Titograd hieß. 1971 wurde er eröffnet und 1979 beim Jahrhundert-Erdbeben vollständig zerstört. Es ist ein hauptsächlich touristischer Flughafen, der die Küstenstädte unermüdlich mit frischen, blassen Touristen versorgt. 80 Prozent des Flugverkehrs finden in den Sommermonaten statt. Aber das ist nichts Neues. Schon in den 70ern hatte sich Montenegro zum Umschlagplatz des Massentourismus entwickelt. Der spülte viel, dringend notwendiges Geld in die Staatskasse der jugoslawischen Volksrepublik. Wehmütige Berichte von Individualreisenden aus dieser Zeit, die um ihre einsamen Strände, idyllischen Fischerdörfer und urigen Berggasthäuser trauerten, berichten davon. Im übrigen kein leichtes Pflaster für Piloten. Eine relativ kurze Landebahn (2500 Meter), die nach wenigen 100 Metern im Meer endet und nur eine Start- und Landerichtung machen das An- und Abfliegen zur Herausforderung. Naja, zu einer kleinen jedenfalls, würde ich sagen und ich muss das ja wissen. Ich bin schließlich Vereinsvorsitzende und Segelflugschülerin des Fliegerclub in Pinnow. Punkt.

In Budva werden wir herzlichst empfangen. Noch während wir etwas ratlos auf den Stufen unserer Pension herumstehen, auf der Suche nach einer Klingel, schießt unsere Wirtin um die Ecke. Energiegeladen führt sie uns ein in ihr Reich. Sie spricht ganz gut Englisch und ich übersetze ihre Rede: „Oh, neue Gäste sind angekommen, wie schön. Herzlich willkommen. Wie ist der Name?“

„Martina“, antworte ich. Das reicht, wenn man über booking.com gebucht hat.

„Aahh Martina!“ Sie weiß sofort Bescheid. „Booking, eine Nacht.“

Ich bestätige das, glücklich, mal wieder identifiziert worden zu sein. Allein mit meinem Vornamen. Sie führt uns nach oben.

„Hier das WLAN, hier die Klimaanlage, die Dokumente bitte.“ Wir tun, wie uns geheißen. Während sie meinen Personalausweis fotografiert, sprudelt sie weiter. Ob wir schon einmal hier gewesen seien.

„Was, ihr wart noch nie hier? Hier in meinem wunderschönen, geliebten Budva? Da vorne ist die Altstadt“, sie zeigt mit der Hand hinter sich, „Restaurants gibt es unendlich viele, Einkaufsmöglichkeiten heute keine.“ Ein Hauch von Unsicherheit schleicht sich in ihre feste, klare Stimme. Vielleicht denkt sie ja, wir wollen heute schoppen gehen? Aber im nächsten Moment schiebt sie ihre eigenen Zweifel rigoros beiseite. „Heute ist Sonntag und die Leute müssen doch wenigstens einen freien Tag in der Woche haben, um sich auszuruhen.“ Recht hat sie. Ich pflichte ihr herzhaft bei. Irgendwann muss doch auch mal Ruhe sein.