Von Igalo nach Lepetane
Wir haben ein neues Kapitel aufgeschlagen. Montenegro. Und wir befinden uns in der Orientierungsphase.
„Huhni, schätz doch mal, wie viele Einwohner Montenegro hat“, klingt beim Morgenkaffee die vertraute Stimme an mein Ohr.
„17 Millionen“, antworte ich, wie aus der Pistole geschossen. Das ist die einzige Zahl, die ich mir merken konnte im Geographieunterricht. Und die DDR war klein und Montenegro ist auch klein. Das könnte doch passen.
„Da hast Du jetzt aber gehörig daneben gegriffen“, spricht Dr. Robert Loest, Professor für Geographie etwas von oben herab, wie es sich für einen echten Professor gehört.
„Also“, beginnt er seinen Vortrag, „in Montenegro leben gerade einmal 600.000 Menschen auf einer Fläche, die ist, halt dich fest (jetzt macht er es aber spannend), natürlich kleiner als die DDR. Kleiner als Mecklenburg und sogar noch ein bisschen kleiner als Thüringen. Und mal zur Veranschaulichung: In Thüringen tummeln sich 2 Millionen Menschen auf 16.000 Quadratkilometern. Die 600.000 Montenegriner verteilen sich locker auf 13.000 Quadratkilometer“.
„Aber“, doziert er weiter, „auf diesen wenigen Quadratkilometern steppt der geographische Bär. Das kannst Du mit Thüringen nicht vergleichen. Da haste den Thüringer Wald, die Hohenwartetalsperre, das Erfurter Becken und den Stausee Hohenfelden. Hier Huhni, hier geht es so richtig ab.“
„Der geographische Bär, Hähni? Erzähl weiter.“ Ich bin neugierig geworden.
„Die Küste“, fährt er fort, „da, wo wir gerade herumturnen, ist steil abfallend und durch spannende Buchten gegliedert. Zum Beispiel die Bucht von Kotor. Es gibt sehr alte, geschichtsträchtige Küstenorte hier. Den Südosten prägen Niederungen. Rund um den Skutarisee liegen die fruchtbarsten Gegenden Montenegros. Den landestypischen Rotwein baut man hier an. Er heißt Vranac.“
„Das ist gut, Hähni, da kommen wir lang, das habe ich schon auf der Karte gesehen und dann probieren wir ihn. Einverstanden?“ unterbreche ich ihn etwas ungehobelt.
„Richtig spannend wird es dann im Nordosten“, geht der Vortrag weiter. „Das montenegrinische Hochgebirgsland ist unzugänglich und durch steile abweisende Canyons tief zerteilt. Darunter gilt die Tara-Schlucht als die tiefste Schlucht Europas. Hier befinden sich auch die höchsten Erhebungen des gesamten Dinarischen Gebirges. Das Prokletijemassiv mit der höchsten Erhebung des Landes, dem Zla Kolata 2534 m, sowie das Durmitor-Massiv mit dem Bobotov Kuk, 2522 Meter hoch...“
„Bobotov Kuk, das klingt wirklich lustig, Hähni, Bobotov Kuk.“ Jetzt habe ich ihn schon wieder unterbrochen.
„Lass mal Huhni, jetzt habe ich auch schon beinahe das Wichtigste erzählt“, antwortet er ganz friedlich. Robert mag es gar nicht, wenn ich ihn unterbreche, was ich ehrlich gesagt, ziemlich oft tue.
„Zwei interessante Dinge noch“, und schon geht es weiter, „die großen Wälder Zentralmontenegros gelten als die artenreichsten in ganz Europa und die Urwälder des Durmitor sind Rückzugs- und Lebensraum für Raubtiere wie Wolf, Braunbär und Luchs“, beendet der Vortragende seine Rede.
„Womit dann ja wohl eindeutig bewiesen wäre - je weniger Mensch, umso mehr Leben. Eigentlich ein trauriges Fazit“, schiebe ich nach.
Heute sind wir 20 Kilometer immer entlang der Küste gelaufen und haben unsere Studien betrieben. Badeort reiht sich an Badeort. Ich weiß nicht, wie viele tausend Menschen wir heute beim Plantschen und Sonnenbaden beobachtet haben. Es gibt kaum deutsche Urlauber und wenn, dann solche mit einer Gastarbeitervergangenheit. Keine tschechischen, keine kroatischen und keine polnischen Nummernschilder erkennen wir. Die Mehrzahl der Urlauber kommen aus Serbien, aus Bosnien und aus Montenegro eben. Die Speisekarten sind dreisprachig. Montenegrinisch, Englisch und Russisch. Warum eigentlich Russisch?
Die Stimmung ist gelassen und entspannt. Der junge Kellner im Café, die alte Frau hinter ihrem Gemüsestand, die Vermieter unserer Ferienwohnung - bis jetzt sind uns nur freundliche Menschen begegnet. Alles wirkt, auf nicht unsympathische Weise, nicht ganz so geleckt, wie die pieksaubere kroatische Küste.
Und mit noch einer Landessitte werden wir konfrontiert. Alle weltlichen Feiertage: der Tag der Arbeit am 1. Mai, der Unabhängigkeitstag und auch der Staatsfeiertag, werden hier gleich zwei Tage gefeiert. Und fällt der erste der Feiertage auf einen Sonntag, dann sind Montag und Dienstag trotzdem frei. Die Läden bleiben geschlossen, kein Mensch geht in die Fabrik und die Kinder müssen nicht zur Schule.
Ist zwar nervig für Reisende wie uns, wenn wir gerade am Staatsfeiertag hier eintrudeln, und zwar am ersten der beiden Tage, aber abgesehen davon ziemlich sympathisch. Finden wir.