Von Slano nach Orašac
„Huhni, Du musst aufstehen“, tönt es an meinem Ohr. Aufstehen? Ich? Warum? Es ist doch Ruhetag und ich stehe überhaupt nicht auf. Gehe nirgendwo hin. Den ganzen Tag nicht. Schone meine alten, müden Knochen. „Huhni, ich habe Dir alles zurecht gelegt. Das Strandlaken, den Badeanzug, das Protokoll und sogar einen Stift“ tönt es hartnäckig an meinem Ohr. „Huhni, Du musst los. Der Selbstversuch, das Am-Strand-Liegen, erinnerst Du Dich nicht.“
„Hähni“, stöhne ich matt. „Das war eine Schnapsidee. Heute mache ich überhaupt nichts, überhaupt gar gar nichts.“ Drehe mich um, ziehe mir das Bettlaken über den Kopf und schlafe noch eine Stunde.
Am Ende haben wir uns doch bewegt. Einmal anderthalb Kilometer in den Ort und zurück. Zum Einkaufen. Und baden waren wir.
Nun, einen Tag später, ziehen wir weiter. Die Dame, die bei Komoot (unserer Wander-App) angestellt ist, spricht ihren morgendlichen Satz. „Los geht’s!“ verkündet sie aufmunternd. Allein bei mir kommt ihr Optimismus nicht an.
Lustlos trotte ich los. „Hähni, irgendwann auf den 15 langweiligen, anstrengenden, brütend heißen Kilometern, welche vor uns liegen, müssen wir uns mit dem Phänomen Heimweh beschäftigen. Ich bin von dieser Krankheit befallen“, diagnostiziere ich mich selbst, „schon seit gestern Nachmittag.“
Zunächst bleibt dafür wenig Zeit. Wir sind vollauf beschäftigt mit „Wandern Kroatisch“. Das Übliche. Steil geht es hinauf. Aus Weg wird Steg wird Pfad wird undurchdringliches Gebüsch. Und das Ganze wenige Meter unterhalb der rettenden Straße. Man sieht sie ja schon fast. Ich gehe nicht zurück, auf gar keinen Fall. Zu meiner Linken eine mannshohe Steinmauer. Ich klettere hinauf, peile die Lage.
„Hähni, das wird klappen. Dahinter ist ein verfallener Olivengarten, der hat bestimmt Zugang zur Straße.“
Also rüber mit uns. Macht Spaß. Beim Klettern wäre das bestimmt ein 3+ oder eine 4-. Wir haben ja immerhin noch zeh Kilogramm Gepäck auf dem Buckel. Mit blutigen Waden, völlig verschwitzt, erreichen wir die Straße.
Heimweh. Kolumbus in seiner Kajüte an Bord der Santa Maria auf dem Weg in die Neue Welt. Edmund Hillary im windzerzausten Zelt wenige Meter unterhalb der Todeszone des Mount Everest. Die neunjährige Hanna auf ihrer ersten Klassenfahrt, der unbekannte Soldat im Schützengraben vor Verdun. Die Millionen von Geflüchteten und Vertriebenen dieser Welt. Ich bin mir sicher, alle kennen dieses zermürbende Gefühl.
Die Schwester von Heimweh ist das Fernweh.
Kolumbus ereilt es in seinem Ehebett mit Filipa de Perestrelo e Moniz auf der Insel Porto.
Torsten aus Bitterfeld in der DDR, der nun schon x-mal in Bulgarien und Rumänien war und nun endlich mal Paris sehen möchte - und dann sterben! Der unausgelastete Bürohengst im Ministerium für aktuelle Ägyptologie, dessen einzige Aufgabe es ist, Akten von rechts nach links zu räumen, die überforderte, alleinerziehende Mutter. Sie alle sind infiziert mit dem Virus des Fernweh.
Heimweh, Fernweh, Sehnsucht. Ausdruck einer nicht balancierten Seelenlage. Da wo man ist, ist es nicht gut. Man ist überfordert, überanstrengt, gelangweilt oder gezwungener Maßen hier. Aber es gibt einen Ort. Einen verheißungsvollen. Einen, an dem alles gut ist, an dem man seine Ruhe findet. Daheim oder in der Ferne. Das eine oder das andere. Das jedenfalls, wo man gerade nicht ist.
Und dann gibt es noch eine besondere Blüte im Reigen dieser bitteren Gefühlslage.
Die Sehnsucht, das Vermissen des geliebten Partners. Und das könnte so aussehen:
Sie (Frau) kommt nach Hause von einem ayurvedischen Wellnesswochenende mit ihren Freundinnen. Er (Mann) hat es sich mal so richtig gut gehen lassen. Hat mit seinen Kumpels abgehangen und Bier getrunken, mittags schon vor der Playstation gesessen und gemeinsam mit dem achtjährigen Sohn die gesamte Herr-der-Ringe-Trilogie am Stück angeschaut. Dabei haben sie zwei Liter Cola und eine Jumbo-Packung Kartoffelchips vertilgt. Ein riesengroßes, blutiges Steak hat er gegessen. In aller Ruhe. Sie ist Vegetarierin. Natürlich tolerant, aber wie sie ihn immer so vorwurfsvoll anschaut über den Rand ihres Gemüsetellers. Da kann es einem ja vergehen.
Jetzt kommt sie frisch, blühend und duftend nach Hause, gibt ihrem verpennten, immer noch nicht geduschten Liebsten, der im Schlafanzug auf dem Sofa herumdümpelt einen Kuss auf die Stirn: „Na, Schatz, hast Du mich vermisst?“ peitscht die Frage durch den Raum.
„Jetzt bloß nichts Falsches sagen“, denkt er und alle Alarmglocken schrillen, „sonst hat sie wieder zwei Wochen Kopfschmerzen, immer wenn ich mich ihr zärtlich nähere.“
Er antwortet zügig. „Sehr, Hase, sehr“, sprechen seine Lippen, „ohne Dich macht das Leben keinen Sinn, ich schwöre.“ Und hinter seinem Rücken in der Sofaecke kreuzen sich Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand.
Unser heutiger Weg war, mal abgesehen von den ersten zwei Kilometern (aber irgendwie mögen wir ja auch diese Art von überschaubarem Abenteuer), unbeschreiblich schön. Auf 400 Metern Höhe, neben uns ging es steil bergab, liefen wir auf einem winzigen Sträßchen.
Durch verschlafene, stille Bergdörfer mit atemberaubenden Ausblicken auf die dalmatinische Küste. Immer wieder bleiben wir stehen, staunen, sehen uns an und schütteln ungläubig die Köpfe. Unfassbar schön. Unseren Zeltplatz küren wir zum bisher besten dieser Reise. Schattig, mäßig besucht, eine Sitzgelegenheit, ein Kühlschrank! (endlich mal keinen lauwarmen Weißwein), ein ungewöhnlich schöner „Tante-Maria-Laden“ im Dorf.
Am bisher besten Strand unserer Reise (mit Sprungmöglichkeit von der Kaimauer) toben wir im grünblauen Wasser. Springen, schwimmen vorwärts und rückwärts. Tauchen. Beim anschließenden Sonnenbad sächselt es neben uns heimelig. Das ist bestimmt die Großfamilie mit dem Annaberger Kennzeichen, das wir auf dem Parkplatz gesehen haben.
Es geht uns gut, wirklich gut. Wir haben alles was wir brauchen und noch mehr. Die dunkle Wolke Heimweh ist weitergezogen. Vorerst.