92. Etappe

Von Ston nach Slano

Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Das hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Was noch vor ein paar Wochen Beklemmungen in mir erzeugt hat, ist jetzt beruhigende Realität geworden. Fenster zu, Licht aus, Klimaanlage an.

Einschläfernd rattert sie vor sich hin, verteilt klammheimlich Keime und Bakterien im Raum, die sich in den Filtern und Rohren der ollen Rostlauben über die Jahre hinweg angesammelt haben, und entzieht der Luft schleimhautreizend die gesamte Feuchtigkeit.

Jeden Morgen wache ich auf und mein Nasenloch ist verstopft. Immer das rechte.

Wir haben uns auf 25 Grad geeinigt und ich bete, dass dies ein organisch-ökologischer Kompromiss ist, bei dem die Schäden für Leib und Erde sich in Grenzen halten. Irgendwann muss der Mensch ja auch mal schlafen.

Gut sind wir durch die Nacht gekommen im altehrwürdigen Ston. Eine Stadt mit Charakter und Geschichte. Vielleicht hat ja das eine mit dem anderen etwas zu tun. Schon die Römer siedelten hier. Lebten gut vom Weinanbau und von der Salzgewinnung. Wie gerne würde ich mal eine Weinverkostung entlang der Zeitachse machen. Ob und wie sich der alte römische Wein vom heutigen hier produzierten unterscheidet, möchte ich testen. Wahrscheinlich würden unsere von künstlichen Aromen und Zuckerzusätzen versauten Geschmacksnerven kollabieren.

Im Mittelalter kam die Stadt zu ihrer Blüte und die Salinen von Ston, in denen auch noch heute Salz gewonnen wird, brachten Reichtum und Wohlstand nach Dubrovnik.

Um die Halbinsel vor im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufkommenden Begehrlichkeiten zu schützen, baute man eine gigantische Befestigungsanlage.

Es entstanden drei Kastelle, die durch Mauern miteinander verbunden waren. Über 40 Türme waren Teil der ca. fünf Kilometer langen Mauer, von der bis heute noch Teile stehen. So war der Zugang zur Halbinsel Pelješac vollständig kontrollierbar.

„Hähni, hier steht, dass dies die zweitlängste Festungsmauer der Welt ist“, informiere ich, wie üblich, meinen Mitreisenden beim Begrüßungsgetränk. Dass die Chinesische Mauer mit 6000 Kilometern die längste der Welt ist, dass zweifeln wir nicht an, aber dann gleich die popeligen fünf Kilometer von Ston? Niemals.

Was ist denn mit der Berliner Mauer? Dieser Teil des antifaschistischen Schutzwalls, zu unserer Sicherheit errichtet, war wesentlich länger, nämlich 155 Kilometer und wesentlich besser gesichert als dieser Steinhaufen hier. Da war kein Durchkommen. Von keiner Seite. Nicht für den freiheitshungrigen kleinen Ossi und auch nicht für das Ungeheuer Kapitalismus.

Gegen halb acht tigern wir los. Etwas lustlos und unmotiviert. Eigentlich ist das heute schon wieder zu weit. Und zu viele Höhenmeter. Und zu heiß. Wir brauchen mal wieder eine Pause.

Zunächst kommen wir gut voran. Kleine Straße, kein Verkehr und auf den ersten zwei Kilometern sogar schattig und ohne nennenswerte Steigungen. Nach acht Kilometern machen wir die erste Pause. Sitzen im Schatten unter großen Bäumen an den leeren Tischen einer Konoba. Sie öffnet erst in einer Stunde. Betröppelt beobachten wir den rauschenden Verkehr, welcher an uns vorüber zieht. Wusch Auto von rechts, wusch Auto von links wusch wusch Auto von beiden Seiten gleichzeitig. WUSCH LKW von links WUSCH Bus von rechts. WUSCH WUSCH von beiden Seiten. Und so geht das endlos in allen Kombinationen. Wusch WUSCH WUSCH wusch wuschwusch. Ratlos sitzen wir am Rand der Jadranska magistrala. Mittlerweile eine alte Bekannte. Bis hierher haben wir sie aus der Ferne betrachtet und mit einem gewissen Gruseln das Getöse vernommen. Auf den nächsten zwölf Kilometern müssen wir sie begehen. Nicht durchgehend, aber immer mal wieder hier und da einen Kilometer oder anderthalb. Das schaffen wir nicht, das ist unmöglich. Robert macht einen Test. Läuft ein paar Meter zum Ortsausgang. Kommt zurück, schüttelt den Kopf: „Ich gehe da nicht lang. Rechts Felsen, links Leitplanke und nicht die Spur von Seitenstreifen.“

Was nun? Nehmen wir den Bus? Aussichtslos. Vor fünf Minuten hat einer gehalten und der zweite des Tages geht sicher erst am späten Nachmittag. Kein Fahrplan weit und breit. Trampen?

Ich befrage Komoot. „Hähni, es gibt eine Alternative“, stelle ich nach geraumer Zeit fest. „Wir können oben rum gehen. Das sind vier Kilometer mehr und 200 Höhenmeter obendrauf. Wir werden uns schnell einig. Jetzt da rumstehen und den Daumen raushalten, sich zum Teil des Wahnsinns machen? Wir kapitulieren doch nicht vor einer touristischen Hauptschlagader. Wenn es sinnvolle Alternativen gibt. Es ist früh am Tag, wir haben genügend Wasser und der Weg ist nicht zu verfehlen. Eine kleine Straße in die Berge.

Los geht es.

Wir stapfen, wir schwitzen, wir erzählen uns aus gegebenem Anlass Geschichten über Karawanen in der Wüste irgendwo zwischen Timbuktu und Taoudenni.

Und dann sind uns Engel erschienen. Zwei weibliche und ein kleiner schwarzer mit Fell.

Zunächst haben sie uns überholt in einem alten, rostigen Opel. Haben freundlich gewunken und wir zurück. Wenige Minuten später kommen sie uns wieder entgegen. Halten an. Eine junge Frau steigt aus. Ob wir ein Stück mitfahren wollen, fragt sie. Wir schauen uns verdutzt an. Eigentlich wollen wir ja nur zur Not trampen und wir sind nicht in Not. Wir schaffen das schon.

Aber mal ganz ehrlich, die haben nicht nur ungefragt angehalten, sie haben sogar kehrt gemacht und sind wieder zurückgekommen. Das ist Gastfreundschaft, die wir nicht ablehnen können. Slano liegt nicht direkt auf ihrer Strecke. Sie bringen uns nur ein Stück. Alle Fenster runter geleiert, eine Klimaanlage gibt es hier nicht, wir rasen um die Kurven. Ich teile mir die Rückbank mit der zweiten jungen Frau und einem gutmütigen Hund. Die Zeit reicht gerade für ein kurzes Gespräch über das Woher und Wohin. Der zottelige Vierbeiner legt seinen dicken Kopf auf meine Knie, als würden wir uns schon seit Jahren kennen.

„Er mag Dich“, sagt sie mit weicher Stimme und gutem Lachen. Ein Engel eben. Vor einer Kuppe schmeißen sie uns raus. „Da müsst ihr noch drüber“, sagen sie, „und dann geht es nur noch bergab.“ Etwas ungelenk wenden sie auf der engen Straße. Wir winken lange.

Tatsächlich geht es nur noch bergab, aber eben eine ganze Weile. Sie haben uns ein ordentliches Stück abgenommen. Eigentlich genau die vier Kilometer und 200 Höhenmeter obendrauf.

Morgen ist Ruhetag. Gut so! Kein Gelatsche durch die Hitze, keine Tourenplanung, keine Berichteschreiberei. Aber ich werde nicht untätig sein. Ich werde einen Selbstversuch starten. Wie fühle ich mich im Strandurlaub? Die Variante der Erholung, die wir misstrauisch seit mehr als 800 Kilometern beäugen. Ich werde in aller Frühe, bereits um acht, zum Strand gehen und mein Handtuch ausbreiten. So macht man das hier. Ich habe es genau gesehen. Und dann dort unbeweglich liegen und das Geschehen über den Rand meiner Sonnenbrille beobachten. Bis mindestens 13 Uhr. Ab und zu gehe ich baden oder hole mir einen Cocktail. Das Protokoll habe ich schon vorbereitet. Puls, Körpertemperatur, Stimmung – alles werde ich genau aufzeichnen, und dann auswerten. Und dann berichten. Vor dem Tatort. Morgen ist Sonntag.