91. Etappe

Von Brijesta nach Ston

5:30 Uhr. Der Wecker klingelt. Was sage ich, der Wecker. Das Händie gibt die übelsten, schrillsten Geräusche von sich. Brutaler kann der Start in den Tag nicht sein. Fahrig taste ich um mich. Wo ist dieses Drecksteil? Und wo bin ich überhaupt?

Schlaftrunken zerre ich den Schreihals aus dem Seitenfach unseres Zeltes und bringe ihn mit wüster Wischerei über das Display zum Schweigen. Immer nach rechts. Stop steht da, das kann ich gerade noch lesen ohne Brille. Stop stop. Kapierst Du nicht, was ich von Dir möchte?

Endlich gibt er auf. Hält den Schnabel. Fix und fertig sinke ich zurück auf die knirschende Isomatte. Muss mich erst einmal sammeln. Mein Schädel brummt. Leichte Übelkeit grummelt in der Magengegend. Wo sind wir nochmal? In unserem Zelt auf einem menschenleeren Zeltplatz in Bri… irgendetwas mit Bri... Bridingsbumms. Steig mir doch den Buckel runter.

Ich rekapituliere den letzten Abend. Erinnerungen steigen aus den Untiefen meines immer noch vernebelten Gehirns.

Auf Expedition wollen wir heute gehen. 22 Kilometer, knapp 500 Höhenmeter und 31 Grad im Schatten. Das ist eine Hausnummer für uns, das nehmen wir ernst. Um 6:00 Uhr spätestens werden wir starten. Früh müssen wir zu Bett, wir brauchen unsere gesamte Kraft. Und alles lief super – zunächst. Gegen 22:00 Uhr, der Tagesbericht ist geschrieben, der Korrekturleser hat seinen Senf dazugegeben, klappe ich den Deckel des Laptops zu. Alles läuft nach Plan.

Da kommt Uwe aus der Dunkelheit angeschlichen. 76 Jahre, pensionierter Sportlehrer aus Köln, Skilehrer, drahtige Gestalt.

Er hätte uns schon vorhin gesehen auf dem Zeltplatz und sofort erkannt, wir wären etwas Besonderes. Woher wir kämen und wohin wir wollten. Etwas Besonderes? Hilflos schaue ich zu meinem Hahn. Huch, was sagt man denn dazu? Hier muss eine Verwechslung vorliegen. Und dann kommt es so, wie es kommen muss.

Schwupps sitzt er am Tisch. Die Gläser werden gefüllt mit dem hervorragenden Wein aus der Gegend, Gemeinsamkeiten werden erkannt und gefeiert. Uwe spielt Trompete und sein Vater war Musiker. In Stoupa, unserem Zielort auf dem Peloponnes, war er schon. Mit seiner ersten großen Liebe. Sogar im Knast hat er dort gesessen für einen Tag. Er kommt seit 20 Jahren hierher. Ärgert sich auch über die neue Brücke und die Straße und hat die selben Ideen wie wir, von wegen Bosnien einfach mal in die EU aufzunehmen.

Es ist ein schönes Gespräch. Wir sitzen bis nach Mitternacht. Und heute morgen guckt die schreibende Expeditionsleiterin dumm aus der Wäsche.

Irgendwie sind wir dann losgewankt. Kurz nach sechs. Wir können schließlich nicht einfach unsere Pläne ändern. Die Höhenmeter des Tages liegen auf den ersten Kilometern. Schweigend steigen wir auf, froh losgegangen zu sein, die Sonne kommt noch nicht einmal über den Berg. Schon anderthalb Stunden später haben wir den Pass erreicht. Von nun an geht es bergab.

Wir gehen Straße. Einsame, autofreie Straße durch das Innere der wenig besiedelten Halbinsel Peljesac. Einst Hauptschlagader, verkümmert sie nun zur verödeten Krampfader. Uwe hat uns diesen Tipp gegeben. „Geht nicht, die ollen Schotterwege, nehmt die alte Straße, da fährt kein Schwein mehr jetzt, vielleicht vier Autos am Tag.“

Wir gehen nicht nur Straße, wir begehen eine Weinstraße. Nach links steil hinauf, nach rechts steil hinunter – Weinberge. Wie um alles in der Welt kann man die bewirtschaften? Das muss alles von Hand erfolgen. Eine Maschine, die mit diesem Gelände klarkommt, kann ich mir nur schwer vorstellen. Am Straßenrand heruntergekommene Schilder – Vinary, homemade products, tasting.

Dem schlichten Straßenverkauf der selbst hergestellten Produkte hat die neue Transitstrecke, die auf der anderen Seite des Tals verläuft, wahrscheinlich den Garaus gemacht.

Am Ende habe ich mir in Ston eine Flasche Wein gegönnt. Aus Ponikve – da sind wir heute durchgelaufen. Unser Quartier ist eine Mischung aus Konoba (einfachem Restaurant), Winzerbetrieb und Herberge. Ein Erfolgsmodell. Essen kann ich hier heute Abend nicht schon wieder, Mytilus edulis, die Miesmuschel liegt mir noch schwer im Magen. Aber einen Wein trinken aus der Gegend, durch die ich heute gewandert bin, das würde ich gerne. Nicht immer nur den Billigwein aus dem Studenac Market – Regal unten links.

Zögerlich betrete ich den kleinen Gastraum. Frage nach selbstgemachtem Wein. Etwas bang ist mir schon. Ich kenne nur die arroganten Winzer (ich tue ihnen bestimmt Unrecht mit diesem Adjektiv) aus der Gegend um Gigondas in der oberen Provence. Highendprodukte für den verwöhnten Gaumen des Gourmets werden dort angeboten. In Südfrankreich habe ich mich immer an die schlichten, bezahlbaren Weine der Kooperativen gehalten. Hier gibt es so etwas nicht. Jeder wurstelt für sich.

Der ältere Herr hinter dem Tresen mustert mich von oben bis unten. Nichts anzügliches liegt in seinem Blick. Er ist ganz sicher nicht der vorletzte Macho der Adria. 

„Wir produzieren liebliche Dessertweine, leichte Weißweine mit wenig Alkohol und charakterstarke, hochprozentige Rotweine“, informiert er mich über das Sortiment. Nirgends stehen Preise an den Flaschen, hoffentlich bin ich hier richtig. „Ich gehe davon aus“, fährt er in seiner Rede fort, „dass Sie“, noch einmal dieser Blick von oben nach unten, „am allerliebsten trockenen Rotwein mögen.“

Woher weiß er das? Er verschwindet, kommt zurück mit einer dunkelgrünen Flasche und schenkt mir mit elegantem Schwung einen ordentlichen Schluck ein. Ich nippe am Glas, immer noch voll Sorge, dass ich mir den ganzen Spaß gar nicht leisten kann. Während ich versunken dem ersten Schluck dieses Göttertranks nachspüre, spricht er weiter auf mich ein. Der Wein ist aus einer Traube, die es nur hier gibt. Nur hier auf der Halbinsel. Es gibt zwei Qualitäten. Die aus den alten Weinstöcken und die aus den neuen. Die alten Weingärten sind äußerst schwer zu bewirtschaften. Die Produktion begrenzt. Der Wein wertvoll.

Und als erkenne er meine Not (es sind 31 Grad im Schatten und der schwere, köstliche Wein verdunkelt bereits nach zwei Schlucken meine Wahrnehmung) lenkt er ein. „Das ist nichts für den Sommer, versuchen Sie mal diesen hier.“ Und in ein zweites, sauberes Glas schwappt ein Schluck Weißwein, er hat ihn aus dem Kühlschrank geholt. Das Glas beschlägt sofort. Ich nehme einen tiefen Zug. Der ist gut.

„Ich würde gerne eine Flasche davon kaufen“, erkläre ich dem freundlichen Winzer, „ich würde auch gerne zwei Kisten davon kaufen, aber wir sind nicht mit dem Auto.“

Papperlapapp. Er weiß, dass wir seine Gäste sind. Packt die Weißweinflasche in einen mit Eis gefüllten Behälter, schnappt zwei schöne Gläser und bringt sie uns auf die winzige Terrasse im ersten Stock des mittelalterlichen Hauses im Herzen von Ston.

Acht Euro hat die Flasche gekostet. Acht Euro würde ich sonst niemals für eine Flasche Weißwein ausgeben. Hier erscheint es mir wenig, wenn ich die Arbeit sehe, die dahinter steckt.

Ich würde gerne eine Kiste oder zwei von dem Roten bestellen. Ob er sie wohl nach Deutschland versendet? Dort trinken wir den Wein mit all unseren Freunden auf der Kreuzung der Körnerstraße, da wo das Antiquariat Loest ist und befragen den Weinkenner der Nachbarschaft: „Gamerschlag, Weinkenner vor dem Herrn, was sagst Du dazu?“