89. Etappe

Von Trpanj nach Sreser

Kleine Robertsche Abschweifung 13

Wozu ist die Straße da? Zum Marschieren...

Prinzipiell legt es der kroatische Kraftfahrer nicht darauf an, harmlose Rucksackreisende über den Haufen zu fahren. Zu groß sind die Scherereien, die man anschließend mit Polizei und Angehörigen hat. Und die ganze Matsche dann aus dem Kühlergrill heraus zu kratzen, ist auch kein Vergnügen. Trotzdem muss man auf vielbefahrenen Straßen, die man notgedrungen gelegentlich bewandern muss, diverse Regeln beachten. Denn es gibt wie überall auch hier Träumer, Saumselige und Telefonisten am Steuer, die dem „Roadhiker“ (das Wort habe ich gerade erfunden) blitzschnell das Licht ausblasen können.

Fürsorgliche Eltern und manchmal auch Lehrer bringen den Kindern bei, außerhalb der Ortschaft auf der linken Straßenseite zu marschieren. Martina kann davon sogar ein Lied singen und tut es immer wieder mit Innbrunst

(Mit Juchhu und mit Juchhe, immer lang auf der Chaussee, dann spazierst Du über Land, stets am linken Straßenrand).

Richtig, wir laufen links, damit wir im Notfall in den Straßengraben – falls vorhanden – springen können. „Roadhiking“ ist kein Zuckerschlecken, kein Lustwandeln, sondern konzentrierte Arbeit. Beim schlichten Geradeaus-Marsch ist das überschaubar: Kommt ein normales Auto von vorn und kein Verkehr von hinten – alles easy! Kommt von vorn ein „Koffer“ (Bus, Sattelschlepper) ist kleiner Alarm angesagt. Fluchtmöglichkeiten nach links werden geprüft. Die Profifahrer weichen souverän zur Straßenmitte aus. Wenn sie können! Kommt nämlich im schlimmsten Fall von hinten auch noch ein Koffer, dann wird es eng. Also so weit wie möglich links an die Leitplanke, da kommen wir zur Not noch drüber. Luft anhalten und Sprungbereitschaft herstellen! Nach fünf Sekunden ist alles wieder gut und die Nerven können wieder in die Ruhephase gehen.

Aber nun kommt die richtige Schwierigkeit. Enge, durch Vegetation oder Felsen uneinsehbare Linkskurven. An diesen Stellen brettern die Fahrer gnadenlos uns Reisenden entgegen. Erblicken uns eine Sekunde vor dem möglichen Crash. Wenn dann noch ein Koffer auf der anderen Straßenseite kommt, na dann Halleluja. Also müssen wir vor diesen gefährlichen Linkskurven die Seite wechseln. Wir laufen rechts, haben nun den brüllenden Verkehr im Nacken. Das fühlt sich etwa so an: Das Geräusch kommt, es kommt näher, oh es ist ein Koffer. Auf der anderen Seite – verdammte Axt – auch ein Koffer. Warum müssen die sich gerade jetzt hier begegnen, gerade da, wo wir stehen. Wir werden förmlich eins mit der Leitplanke. Drüber springen ist nicht, da gehts 20 Meter runter ins Meer. Nun hupen die Idioten auch noch!

Das Gebrüll nimmt ab, wir entblättern uns aus der Leitplanke und beruhigen uns wieder.

Entlang der Piste stehen zur Aufmunterung und Erbauung die Todesblumen samt Gedenktafel. Eine dieser Tafeln trifft mich besonders. Ein kleines Denkmal, vier auf einen Streich. Diesmal keine Motorradtoten. Ein eingravierter Sattelschlepper deutet auf den Übeltäter und die Ursache hin. Die Phantasie hat hier freien Spielraum. Irgendwo anders sind sie begraben, der Ivo, der Batic, der Gojko und der Mitic.

Der Gedenkstein zeigt außerdem ca. 12 Einschusslöcher. Der Hobbyballistiker diagnostiziert: Kaliber 7,6, Kalaschnikov, Dauerfeuer! Irgendeine militante Frohnatur hat sich hier ausgetobt. Seltsame Leute gibt es!

PS.: Roadhiking, das wird der neueste Trend. Adrenalin pur. Einfach durch den Wald latschen kann jeder, aber das ist ja langweilig. Und das -ing am Ende (siehe Robertsche Abschweifung 10/54. Etappe) macht die Sache zu einem Verkaufsschlager. Mit dieser Geschäftsidee werde ich unverschämt reich. Eröffne eine Agentur – Roadhiking auf den gefährlichsten Straßen der Welt. Sogar Abstufungen werde ich einführen. Blau – Pippikram an mäßig befahrener Landstraße, schwarz – der Mittelstreifen der A9 zwischen Garching und München-Zentrum gegen 17:00 Uhr im Berufsverkehr. Und schwarz mit Stern – der Seitenstreifen des Karawankentunnels zu Ferienbeginn.

Abschweifung Ende

 

Der finstere Typ auf dem Graffiti im Bushäuschen kann nur Ratko Mladić sein, ich bin mir sicher. Und heute, auf den unaufgeregten, autofreien und menschenlosen 20 Kilometern von Trpanj nach Sreser, habe ich ausreichend Zeit mir Gedanken zu machen. Der Weg gut definiert, mäßige Höhe, gigantische Ausblicke auf die Malostonski Bucht und ihre zahlreichen Inseln. Es ist einfach nur sauheiß. Aber mal ehrlich, warum liegen wir auch bis acht im Bett und schlürfen dann bis nach neun Cappuccino im Schatten eines großen Baumes. Ist doch klar, dass uns die Mittagshitze erwischt. Selbst Schuld.

Lange habe ich gestern gelesen und recherchiert. Dem ehemaligen bosnisch-serbischen General werden zahlreiche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnienkriegs zur Last gelegt, darunter die knapp vierjährige Belagerung von Sarajevo und das Massaker von Srebrenica im Juli 1995.

Der Bosnienkrieg, drei Jahre dauerte der Wahnsinn, ist einer von vier blutigen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und er gilt als einer der grausamsten. Zwischen 1992 und 1995 verloren rund 100.000 Menschen ihr Leben. Im Verlauf soll jeder fünfte Einwohner getötet oder vertrieben worden sein.

Mit Titos Tod 1980 begann Jugoslawien zu zerfallen und der mit harter Hand unterdrückte Nationalismus brach sich, auch angeheizt durch den Fall des eisernen Vorhangs in Europa, Bahn.

Angestachelt durch die elegant mit Massenmedien hantierenden Ultranationalisten, dem Serbenführer Slobodan Milosevic, dem kroatischen Ministerpräsidenten Franjo Tuđman und dem bosnisch-serbischen Führer Radovan Karadzic, wurden Nachbarn zu Feinden. Gestern arbeiteten sie noch zusammen, spielten Fußball und tranken Bier. Wenig später sind sie erbitterte Gegner.

Auf keinem anderen Staatsgebiet des Balkans leben so viele Nationalitäten auf engem Raum wie in Bosnien. Und jeder dieser ethnischen Gruppen verfolgte ganz unterschiedliche Interessen. Die größte Bevölkerungsgruppe stellten die meist muslimischen Bosniaken, ein Drittel der Bevölkerung waren christlich-orthodoxe Serben und etwa 13 Prozent katholische Kroaten. Die serbische Bevölkerung plädierte für einen Verbund mit Serbien. Die Kroaten aus der westlichen Herzegowina wollten sich dem neuen kroatischen Staat anschließen und die Bosniaken sprachen sich für die Gründung eines eigenen unabhängigen Staates aus.

Im April 1992 begann die militärische Eskalation zwischen den Konfliktparteien. Die Serben kesselten die Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina ein. Während der mehrjährigen Belagerung von Sarajevo starben etwa 11.500 Menschen. Die bewaffneten Auseinandersetzungen wurden von den jeweiligen nationalistischen Gruppierungen angeheizt und von sogenannten „ethnischen Säuberungen“ begleitet. Alle Kriegsparteien begingen grausame Kriegsverbrechen, wobei die bosnische Bevölkerung am allermeisten litt und die Serben einen wahren Vernichtungsfeldzug führten. Ganze Gemeinden wurden ausgelöscht und von der Landkarte gestrichen. Am 11. Juli 1995 wurde die nahe zur Grenze Serbiens liegende Stadt Srebrenica von serbischen Truppen unter dem Kommando von General Ratko Mladic unter der Direktive des bosnisch-serbischen Führers Radovan Karadzic eingenommen. Nach der Eroberung begannen bosnisch-serbische Truppen damit, männliche Bewohner der Stadt systematisch zu erschießen. Rund 8000 muslimische Männer fielen dem Genozid zum Opfer. Es war der schlimmste Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, der als Massaker von Srebrenica in die Geschichte einging.

Die Initiative für die Verhandlungen zur Beilegung des Krieges in Bosnien ging von den USA und der damaligen Regierung unter Bill Clinton aus. Die Verhandlungen begannen am 1. November 1995 und fanden unter den Bedingungen strenger Klausur statt. Die US-amerikanische Seite zwang die drei Präsidenten zu ununterbrochenen, dreiwöchigen Verhandlungen, während denen der Kontakt zur Außenwelt weitgehend unterbunden war. Vor allem ging es in dieser Zeit um die zukünftige Grenzziehung in Bosnien-Herzegowina.

Die Ergebnisse waren mäßig. Mit dem Abkommen von Dayton war zwar der Bosnienkrieg beendet, aber keine tragfähige Neuordnung geschaffen. Bosnien-Herzegowina gilt weiterhin als ein gespaltenes Land.

Während ich recherchiere, lese, zu verstehen versuche, frage ich mich: Warum habe ich so wenig davon mitbekommen? Klar, in Jugoslawien ist Krieg. Und dass dies eine schlimme Sache ist, habe ich schon kapiert. Aber irgendwie erschien der Balkan unendlich fern. Viel weiter weg als jetzt die Ukraine. Anfang der 90er habe ich Abitur gemacht, ein Studium begonnen und unsere Welt stand Kopf. Hilflos schlitterten wir auf den Überresten der DDR voller Karacho in die Bananenrepublik. Mit 100 Euro Begrüßungsgeld in der Tasche.

Werte verschoben sich, die Welt vergrößerte sich ins Unübersichtliche, schillernde Freiheit wirkte berauschend und überfordernd.

Ich musste mich nicht nur in der Selbstständigkeit zurecht finden, sondern auch noch im Kapitalismus ankommen.

So ganz mit mir selbst beschäftigt, ist dieser Teil der Geschichte Europas damals nicht bei mir angekommen. Gut, dass ich das jetzt nachholen darf.