Von Gradac nach Trpanj
Gestern mussten wir wieder eine der Entscheidungen treffen, die uns am schwersten fallen, weil sie das Wesen und den Kern unserer Reise in Frage stellen.
Wir wollen nach Griechenland laufen und geraten im hochmobilisierten Europa immer wieder an Nadelöhre, durch die wir nicht gehen können, weil es einfach zu gefährlich ist.
Zwischen Gradac und Ploče, unserer heutigen Etappe, schwingt sich der Berg derart kühn aus dem Meer empor, dass es kein Raum mehr gibt für Siedlungen. Nur Wasser, Asphalt und Fels. Auf 14 Kilometern windet sich die Jadranska Magistrala, die angeblich schönste Küstenstraße Europas kurvenreich, ausgesetzt, viel befahren und kreuzgefährlich über die Ausläufer des Biokovogebirges.
Keine Option für Fußgänger wie uns.
Es gibt noch einen kleinen Hoffnungsschimmer. Wir könnten über den 773 Meter hohen Sveti Ilija gehen. Dem Hausberg der Gradacer. Es muss da ein paar Pfade geben, das habe ich auf Komoot gesehen. Zumindest auf der einen Seite kommt man hoch.
„Hähni“, sage ich entschieden, „lass uns in die Touristeninformation gehen und nach einer Wanderkarte fragen. Gibt es irgendeine Art von gekennzeichnetem Weg und selbst wenn er 20 Jahre alt ist, mit EU-Mitteln finanziert wurde und kein Schwein ihn je gegangen ist, dann gehen wir ihn. 780 Meter hoch und auf der anderen Seite wieder runter. Besteht die Tour im Wesentlichen aus jahrzehntelang nicht begangenen Hirtenwegen, die irgendwo im Nirgendwo enden können, zugewuchert vor einem Zaun, wandern kroatisch eben, dann lassen wir das sein.“
„Guter Plan“, kommt die knackige Antwort. Wenig später stehen wir vor der Tür der Touristeninformation. Und zwar vor verschlossener. Öffnungszeiten täglich von 8:00 – 12:30 Uhr. Wir geben nicht auf. Finden eine zweite dieser Art. Ebenfalls zu. Eine Idee haben wir noch. Wir fragen einen Einheimischen. Wer eignet sich da besser als unser Herbergsvater. Ich fasse ihn am Handgelenk, ziehe ihn behutsam zum Rand der Terrasse. Zeige mit verklärtem Blick auf den Berg, welcher sich vor unserer Nase auftürmt und frage sehnsuchtsvoll: „Nach Bacina wollen wir, können wir da rüber gehen?“
Wie aus weiter Ferne vernehme ich seine Antwort: „Es ist nicht leicht“, sagt er mit einem gewichtigen Tonfall in der Stimme, „aber möglich“, schiebt er nach. Es gibt ein paar Knackpunkte, aber die könne er uns beschreiben. „Geht, früh los, noch vor Sonnenaufgang, dann habt ihr gegen Mittag das Schlimmste überstanden. Ich begleite Euch ein Stück.“
Ich höre seine Antwort, weil ich sie hören möchte. Zu gerne ginge ich da hinauf. Was sich tatsächlich abspielt, geht so: „Nach Bacina wollen wir, können wir da rüber gehen?“ Der letzte Macho der Adria lacht schallend, tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Ihr tickt ja nicht richtig, soll das heißen. Da kann man nicht drüber gehen, da ist man ja tagelang unterwegs. Es geht nur die Straße.
Punktum, es ist entschieden. Wir nehmen den Bus.
Tage wie diese bedeuten Wartezeit. Warten auf den Bus, warten auf die Fähre, warten auf den Cappuccino.
Wartezeit: dieser vollkommen statische Moment, gepaart mit der Flüchtigkeit des Augenblickes. Bezaubernder Planet Reise.
Wir hocken im Bushäuschen von Gradac und betrachten ein Graffiti. Wir sehen das Gesicht eines Mannes, einen Soldaten mit Stahlhelm und Waffe, eine Art Festung und eine geballte Faust, aus der sich Zeigefinger und Mittelfinger emporrecken. Heißt: „Victory – Sieg“. Wir sehen, allein wir verstehen nichts. Eine sehr elegante alte Dame betritt die Szene. Großer Sonnenhut, dunkle Brille, ein feingemustertes Kleid aus weichem, fließenden Stoff.
Wir befragen sie nach dem ominösen Kunstwerk an der Wand, welches wir nun seit einer halben Stunde ratlos anstarren. Robert versucht es auf Englisch. Kommt nicht weiter. Sie spricht nur Kroatisch und ein bisschen Tschechisch. Na, dann packe ich mal mein Polnisch aus. Tatsächlich, es funktioniert. Wer denn der unsymphatische Typ da an der Wand des Bushäuschens sei, frage ich. Ihr Gesicht verdunkelt sich: Serbski, Bosniaki, Kroatski, Krieg entnehme ich ihrer gepressten Stimme und dass das alles ziemlich finsterer Mist ist. Ganz verstehe ich noch nicht und frage: „Ist das Tito?“
Tito? Sie glaubt sich verhört zu haben. „Tito?“ wiederholt sie ungläubig und ihr Blick verklärt sich. Ein wehmütiges Lächeln umspielt ihren feingeschwungenen Mund. Nein, Tito ist das ganz sicher nicht. Tito ist… sie formt ein kleines Bündel aus Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger, führt es an die Lippen und verabschiedet es energiegeladen mit einem schnalzenden Kussgeräusch. Das ist Tito.
Nach einer halben Stunde Wartezeit gibt sie auf. Fragt mich nach der Zeit, sie trägt keine Uhr und hat offensichtlich auch kein Smartphone in den Taschen ihres schönen Kleides. Sie verabschiedet sich. Um zehn sollte der Bus fahren. Jetzt ist es halb elf. Sie geht wieder nach Hause. Ich sehe ihr nach. In kleinen Schritten entfernt sie sich. Der weite Rock umschwingt ihre Beine. Ich bin ihr dankbar. Mit wenigen Gesten hat sie uns besser über die Geschichte Jugoslawiens und des Balkans informiert als zehn Wikipedia-Einträge.
Sie ist die erste, die sich überhaupt geäußert hat zu diesem Wahnsinn, der hier bald ein Jahrzehnt gewütet hat. Das Schweigen darüber ist bedrückend. Wir werden sie ganz sicher niemals wieder sehen. Flüchtiger, schemenhafter, intensiver könnte eine Begegnung nicht sein.
Irgendwann kommt der Bus und während der Fahrt klopfen wir uns mal wieder auf die Schulter. Durch und durch vernünftig sind wir. Unpassierbar für Fußgänger ist diese Straße. Alles richtig gemacht!
Die Jadranska Magistrala ist auch ein Friedhof. Gestern morgen sind wir sie gelaufen. Auf überschaubaren vier Kilometern und in aller Frühe hielt sich der Wahnsinn in Grenzen. Kleine schwarze Marmortafeln stehen am Wegesrand. Meist in den Kurven. Eingraviert die Namen Luka Kovačević 1999 – 2020, Karlo Babić 2000 – 2022, Filip Marić 1997 – 2018, Ivano Novak 1996 – 2019. Und ein Motorrad. Verblasste Fotos zeigen die blutjungen Helden der Landstraße vor ihrem Feuerstuhl. An den fünften Namenlosen erinnert ein Blumenstrauß aus Plastik, in den Pfosten einer Leitplanke gesteckt. Fünf Tote auf vier Kilometern. Jung, tatkräftig, energiegeladen. Warum?