Von Podgora nach Blato
Ich hasse es, Menschen auf ihren Gefühlen herum zu trampeln. Heute habe ich das schon zum zweiten Mal geschafft auf dieser Reise. Und jedes mal auf einem Campingplatz. Ein Ort, an dem Privatsphäre mit öffentlichem Leben verschmilzt. Ein Mikrokosmos, den ich in Gänze wohl niemals verstehen werde.
Wenn wir zelten, ist immer die erste Frage, wo können wir sitzen? Zum Essen, zum Schreiben, zum Touren planen. Sitzmöbel aller Art würden den Rahmen unseres Gepäcks sprengen. Als wir uns heute, vom Meer kommend, der Rezeption des von uns gewählten Platzes nähern, ist die Freude groß.
„Hähni, da eine Bank mit Tisch und dahinten noch eine“, rufe ich.
„Huhni, ich habe das auch gesehen. Das wird gut“, tönt freudig die Antwort.
In der vollklimatisierten Rezeption fällt uns dann die Kinnlade runter.
„Two persons and a small tent, one day, no car, no energy“ (zwei Personen und ein kleines Zelt, ein Tag, kein Auto, kein Stromanschluss), gebe ich die übliche Bestellung auf. Eigentlich gehört ja zu jedem Satz ein Verb, ich weiß, aber mein Gegenüber ist ja auch kein native speaker . Das fehlende Bitte und Danke ersetze ich durch ein gewinnendes Lächeln.
Die ältere Dame mit der weißen Bluse rechnet. Tippt wüste Zahlenfolgen in einen großen Taschenrechner. Zeigt mir das Ergebnis. Und ich bin sprachlos. Drehe mich hilfesuchend zu meinem Hähni um. Der steht wie üblich im langen Hänger hinter mir und wartet auf Anweisungen. Die Brille hat er auch nicht auf.
„Hähni, das kostet 42,95 Euro für eine Nacht“, flüstere ich hilflos. 42,95 für eine lausige Nacht in einem winzigen Zelt auf stacheligem, furztrockenem Nadelboden. Die gute Frau hinterm Tresen erkennt meine Not. Tippt erneut auf ihrem Taschenrechner herum, sieht mich bedeutungsvoll über den Rand ihrer goldenen Lesebrille an. Allein, es bleibt dabei. 42,95 Euro. Das geht gar nicht. Noch während ich mich nach einem Beratungsort umsehe, beugt sich die Verkünderin der Hiobsbotschaft über den Tresen und flüstert verschwörerisch: „Gehen sie vor zur Hauptstrasse, folgen sie ihr etwa 150 Meter in Richtung Dubrovnik, dort ist ein kleiner Campingplatz, der ist viel, viel billiger.“ Und noch bevor ich mich bedanken kann, schiebt sie leise nach: „Ich kann sie verstehen.“
Wir tun wie uns geheißen und erreichen das Autocamp Boban. Die Rezeption ist hier ein Holzhäuschen, nicht größer als eine Gartenlaube. Auf unsere Nachfrage hin wird auch hier wieder auf einem Taschenrechner herumgetippt und das Ergebnis erleichtert uns sichtlich. 23,96 Euro für two persons and a small tent, one day, no car, no energy.
Gebongt, das nehmen wir. Allein die Suche nach Sitzmöglichkeiten gestaltet sich schwierig. Wir schnüffeln herum, schauen in alle Ecken und entdecken schließlich im hinteren Teil des Zeltplatzes, vor einem kleinen Holzhaus, direkt gegenüber eines aufgegebenen Sanitärtraktes aus Titos Zeiten, den Klassiker der Gartenmöbel. Weiß, aus Plastik und ich weiß, es gibt sie überall auf der Welt. Sogar auf unserem Flugplatz daheim. Der Tisch ist, wie überall, voll mit Vogelkacke und die zwei Stühle liegen auf dem Kopf. Die kapern wir uns, die vermisst bestimmt heute niemand. Glauben wir jedenfalls.
Noch während wir unsere Beute davon schleppen, ich trage die Stühle und Robert den Tisch, nährt sich uns eine aufgeregte junge Frau. Ihr üppiger Busen wabert aus dem Dekolté eines bunten Sommerkleidchens. Wo wir denn mit den Stühlen hinwollten, fragt sie entrüstet in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Der Tonfall ist eindeutig. Sofort lasse ich alles fallen. Wir sind doch keine Diebe, wir wollten doch nicht, wir wollten doch nur… dürfen wir?
Sie ist außer sich auf eine Art und Weise, die einmalig ist. Fassungslos, enttäuscht, verunsichert. Ihren Eltern gehören die Stühle, die sind zwar nicht da im Moment, aber trotzdem. Ich frage sie vorsichtig, ob wir uns die Stühle denn ausleihen könnten, ob sie denn heute Abend gebraucht werden? Mittlerweile radebrechen wir mit Händen, Füßen und Herzen auf Englisch. Und dann biete ich ihr auch noch Geld an. Eine Leihgebühr. Wie übel.
Den Ausdruck im Gesicht der jungen Frau werde ich so schnell nicht vergessen. Hätten wir sie vorher gefragt. Offene Türen wären wir eingelaufen. Sie hätte uns die Sitzgaranitur von Herzen gern gegeben und noch einen Schnaps oben drauf. Und so sind wir eingedrungen in ihre Privatsphäre und haben sie dazu genötigt, böse und barsch zu sein. Wie konnten wir nur.
Unsere angekündigte Tagesetappe über 17 Kilometer und 270 Höhenmeter war wunderschön. Wir haben einen imposanten Begleiter zu unserer Linken. Der steile Abbruch des Biokovo, einem Teil des dinarischen Küstengebirges. Bis auf 1700 Meter geht es hier hinauf. Karg, schroff, wasserarm
Während in Podgora bereits am Morgen der Bär steppt, ist es in den kleinen Dörfern 200 Meter höher verwunschen still. Wir haben die Ehre auf alten Wegen zu gehen, an die wir unser Herz verloren haben. Steinern und zugewuchert erzählen sie uns Geschichte. Bei jedem Schritt.
Am Ende des Tages die übliche Tourenauswertung. 16,1 Kilometer waren angekündigt. 17 sind wir gelaufen. Wahrscheinlich immer die Außenseiten der Kurven oder der Gang zur Toilette. Unterwegs korrigierte unsere App die Höhenmeter nach oben. 270 Höhenmeter wurden uns ursprünglich vorausgesagt, 320 sind es geworden. Warum? So geht das jetzt schon die ganze Zeit. Spinnt diese blöde App? Wir haben uns nicht verlaufen und sind auch nicht andauernd in die Luft gesprungen.
Beim Begrüßungsgetränk überfällt mich die Erkenntnis wie Archimedes in der Badewanne. „Heureka“, rufe ich und renne dabei nicht nackt durch die Straßen von Blato.
„Hähni, pass auf!“ formuliere ich aufgeregt. „Ich habe das Händie immer in der Hosentasche. Und dann zerre ich es hundertmal am Tag da raus und halte es mir vor die Nase um zu prüfen, ob wir noch richtig sind.“ Ich mache ihm das vor. Mehrmals. „Wie viele Zentimeter werden es wohl sein, von meiner Hosentasche bis an meine Nase? Na? Was schätzt Du?“ Wir einigen uns auf 50 Zentimeter und das ganze mal 100 – macht genau 50 Höhenmeter. Das sind genau die 50 Höhenmeter, die wir jeden Tag vermeintlich mehr steigen und uns dabei wie die Helden fühlen. Gut, oder?