Von Vodice nach Šibenik
Heute war wieder mal ein Glückstag. Und das, obwohl in der letzten Nacht nichts darauf hindeutete. Der Tiefpunkt der Reise erreicht, jedenfalls für meinen sensiblen Wandergefährten.
„Wollen wir abreisen?“ frage ich heute Morgen vorsichtig das Häufchen Elend an meiner Seite. Eine zornige Mischung aus stickig und mückig machte ihm das Leben schwer und die Nacht zum Tag. Dazu meine hartnäckige Weigerung, die Klimaanlage anzuschalten. Soweit kommt es noch! Der Sommer hat noch nicht einmal begonnen (Von wegen, heute ist Sommeranfang, nölt der zerstochene Korrekturleser mit Haut wie ein Streuselkuchen). Und ökologisch ist es auch nicht, was wir hier treiben. Jeden Tag muss Bettwäsche gewaschen werden, weil wir genau einmal darin geschlafen haben.
Ich habe mir das Bettlaken über den Kopf gezogen und der immer noch beste Schutz gegen Mücken sind Ohrenstöpsel. Gegen Geschnarche des Bettgenossen helfen sie wenig, das hochfrequente Summen der kleinen Plagegeister filtern sie konsequent weg. Außerdem – bedient Euch doch, lasst es Euch schmecken.
Robert hat heute Nacht einen verzweifelten Kampf gegen das gefährlichste Tier der Welt geführt. Mücken verbreiten Malaria, das Denguefieber und andere üble Viren und zwar vor allem unter den Armen der Ärmsten in Afrika. 830.000 Menschen sterben pro Jahr an den Folgen dieser Krankheiten. Viel, viel weniger werden Opfer von Haien, Raubkatzen, Bären oder Giftschlangen. Und sogar des Menschen größter Feind, der Mensch selbst, bringt es durch Mord, Totschlag und Kriege nicht auf diese traurige Zahl. Ich schlummere friedlich. Mücken gehen mich nichts an.
Meine einzigen Ängste sind die vor wilden Tieren und Blitzschlag (und Hunden, Kühen, Pferden und Schildern, auf denen irgendwas von „Privat“ zu lesen ist, nölt der durch die letzte Nacht geschwächte Korrekturleser). Irgendwo in der Tiefe meines triebhaften Ichs mäandern sie. Für mich unverständlich, geboren in grauen Vorzeiten. Als der Mensch noch wenig verstanden hat. Noch weniger als im 21. Jahrhundert. Im Jetzt hantiert der Kopf mit Wahrscheinlichkeiten und versucht den Elefanten eine Mücke sein zu lassen. Das Bauchgefühl will besänftigt sein. Bei mir aussichtslos. Angst ist irrational und eine Fessel der Seele. Die Lösung auf einer anderen Ebene.
Die Mücke in Roberts Nachtleben ist real. Nicht abgefahren und unverständlich. Und wie er gekämpft hat gegen das gefährlichste Tier der Welt. Hat sich auf die Lauer gelegt, das Summen verfolgt. Den Ort der Landung lokalisiert. „Patsch“, haut er sich auf die Stirn. „Patsch“ auf den Oberschenkel und „Patsch“ auf das rechte Ohr. (Und „Patsch“ auf den Allerwertesten der Bettnachbarin. Aber die schläft ja und merkt gar nichts!) Das freche Summen, das diesen Mordversuchen folgt, demoralisiert ihn restlos.
Und wann begann nun das Glück? Irgendwann sind wir weitergezogen. Robert völlig derangiert. Der Rucksack schlecht gepackt, da hängt ja das halbe Zelt unten raus. Die übliche Reisegeschwindigkeit von 4,5 Kilometern pro Stunde erreichen wir nur schwer. Endlos tappen wir entlang der Strandpromenade. Ich finde das höchst interessant, was sich da an Absurditäten abspielt. „Olympia Beach“ lockt mit aufblasbaren Hüpfburgen auf dem Wasser und einer Riesenrutsche. Irgendwo an einem schrillen Stand stehen Menschen Schlange. Wir unterdrücken unseren Ossi-Impuls uns hinten anzustellen, ohne zu fragen, was es da eigentlich gibt.
Zehn Minuten später sind wir auf einem völlig einsamen Weg durch die Macchia. Nach einer halben Stunde nähert sich uns ein alter Mann um die fünfundsiebzig. Er schiebt ein klappriges Fahrrad und ist völlig nackt. Als er uns wahrnimmt, zieht er sich mühselig, die Knochen sind schon etwas steif, eine Badehose an. Wegen uns hätte er das nicht gemusst.
Gegen elf erreichen wir Jadria und wieder ist die Welt eine andere. Keine Bars, keine beknackten Vergnügungen in Neonfarben, wenige Menschen. Vor allem gibt es Ältere. Und Großeltern mit ihren Enkelkindern. Jadria ist der „Stadtstrand“ von Šibenik und etwas, was wir in dieser Form noch nie gesehen haben.
Die uralte Stadt liegt in einer geschützten Bucht und ist nur durch einen schmalen Kanal, unwesentlich breiter als die Elbe bei Tangermünde, mit dem offenen Meer verbunden. Schon die Venezianer erkannten die strategische Bedeutung dieses geschützten Ortes und errichteten vier große Festungen in und um die Stadt herum, welche heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Ein besonders imposantes Exemplar überwacht den Eingang der „Heiliger Anton“ genannten Wasserstraße.
Was man sich wohl vom Zusatz „heilig“ versprochen hat? Wahrscheinlich Gottes Segen und damit die Hoffnung auf Schutz. Einfach der „lange“ Anton wäre zu unsicher gewesen.
Die Menschen kommen mit einem kleinen Schiff aus der Stadt, um hier zu baden. Im einbetonierten Meeresschwimmbecken, umringt von einer Unmenge Türchen in allen Farben des Regenbogens. Hinter jeder eine fensterlose Kammer zum Umkleiden und Aufbewahren der Habseligkeiten.
Da sitzen wir nun und warten auf die Abfahrt des Stadtstrandkutters in Richtung Šibenik. Anderthalb Stunden oder etwas mehr. So oft fährt er nicht. Wir sitzen, gehen einmal baden, sitzen wieder auf einer schattigen Bank unter großen Pinien. Oh holde Wartezeit. Zeit voll innerer Ruhe und Glück. (Das innere Glück kommt auch beim Korrekturleser an. Bei einem kalten Weißwein, surrender Klimaanlage - Einstellung 20°C, beobachtet er sein Huhn, wie es fröstelnd unter der Bettdecke verschwindet. Langsam drehe ich die Klimanlage auf 22°C hoch.)