69. Etappe

Von Pag nach (Ma)Rtina

Ich hadere öfter, als ich es zugebe. Jeden Tag ein kleines bisschen. Die morgendliche Überwindung, nach meist unruhiger Nacht im fremden Bett. Der tägliche Aufbruch ins Ungewisse. Oft habe ich Heimweh. Sehne mich nach dem geruhsamen Schwimmen im überschaubaren Schweriner Planschbecken, unserem Hochbett mit Ausguck, meinen Freunden. Unseren liebgewordenen täglichen Ritualen, die langsam wie im Nebel verschwinden. Neuer Alltag, Reisealltag etabliert sich. Gibt es überhaupt ein zurück in unser altes Leben? Wer werden wir sein, wenn wir heimkehren?

Gestern Abend habe ich eine ganze Weile mit Reini vom Fliegerclub telefoniert. Die vertraute, warme Stimme, so nah am Ohr, so fest im Herzen und gleichermaßen Lichtjahre entfernt. Wir haben Verantwortung übernommen in vielerlei Beziehungen. Wir haben versprochen, für die Leute weiterhin da zu sein. Wir geben unser Bestes. Manche Dinge können wir nicht aus der Ferne lösen. Da haben wir keinen Einfluss und das ist eine recht schmerzhafte Erkenntnis. Lassen wir in einem grenzenlosen Egoismus jemanden im Stich?

Und gleichsam wie die zweite Seite einer Medaille schenkt mir jeder Tag ein großes Stück Glück, mit dem ich so überhaupt nicht gerechnet habe. Wie kann man denn auch mit Glück rechnen? Ein fürs Menschenauge undurchschaubares Mysterium.

Wie immer brechen wir gegen acht auf, verabschieden uns von unserer Wirtin. Sie hat uns gestern herzlich empfangen, mit einem Glas Limonade und ein paar Keksen. Ein Hauch von Traurigkeit umwehte sie und sie ist ganz in schwarz gekleidet. Vielleicht ist sie in Trauer. Vielleicht. Wir wissen es nicht. Müssen wir es wissen? Es darf offen bleiben. Offen, wie so vieles auf unserer Reise.

Vor uns liegen 15 Kilometer. 15 Kilometer, die niemals in einem Reiseführer auftauchen werden. Wir durchwandern ein Meer aus Steinen, regelmäßig in Vierecke unterteilt durch Mauern aus Stein. Verlassene Wellblechhütten boten einst Schafen Schutz. Schrottkarren stehen am Wegesrand. Hier auf der Ostseite der Insel trifft die Bora, der kalte Fallwind, der das Velebitgebirge hinuntersaust, die Insel mit voller Wucht. Kein schützender Eichenwald breitet sich wie eine Decke über dem Mutterboden aus. Abgeholzt vor über 2000 Jahren. Jedes noch so kleine fruchtbare Krümelchen pustet er hinweg und er verteilt in seiner Gischt Salz über die Einöde. Wir beschäftigen uns mit dem Unterschied zwischen trostlos und melancholisch. Robert empfindet ersteres beim Gang durch diese Landschaft, für mich ist das Hauptgefühl das zweite.

Trostlos ist dunkel und leer. Melancholisch schillert in vielen Farben.

Auf diesen 15 Kilometern beginnt bereits mein Glück des Tages. Und es kommt noch besser. Noch viel, viel besser. Unsere Tagesetappe endet in Dinjiška. Bis hierher können wir laufen. Die restlichen 10 Kilometer auf das Festland sind für Wanderer lebensgefährlich. Eine kurvige, enge und viel befahrene Straße entlang der Steilküste führt über die Brücke, die Pag mit dem Festland verbindet. Ende der 60er wurde sie gebaut. Damals hielt man Betonbogenbrücken für unverwüstlich und quasi wartungsfrei. Schon während der Bauarbeiten kämpfte man mit der Bora und diese führte auch innerhalb kürzester Zeit zu massiven Schäden an der Brücke. Korrosionsschäden durch Salzgischt. Was sonst. Der Jugoslawienkrieg erledigte den Rest. Man lernte aus den Fehlern, ersetzte den Beton durch Stahl und am 29. Dezember 1999 wurde die Brücke feierlich dem Verkehr übergeben. An die Fußgänger oder Radfahrer aber hat dabei niemand gedacht.

Aber wir waren ja beim Thema Glück stehen geblieben. Wir wollen trampen oder den Bus nehmen. Fragt man Google oder einen Bewohner der Gegend nach Abfahrtszeiten, erntet man Ratlosigkeit und Achselzucken. Öffis sind hier etwas für Arme. Für arme Menschen ohne Auto. Wir erreichen also den Ort, kaufen geschwind noch eine Cola, gehen zur Bushaltestelle. Darin natürlich kein Fahrplan. Jetzt müssen wir hier wieder in der Hitze stehen. Bittstellerisch den Daumen raus halten und arrogante Urlauberblicke ertragen, die uns sagen: „Könnt Ihr Euch kein Auto leisten, ihr heruntergekommenen Fernwanderer. Mit euren verschwitzten Nickis verdreckt ihr ja unsere Polster.“

Müssen wir nicht, müssen wir nicht. Ich tanze innerlich Samba. Zehn Minuten später hält der klimatisierte Bus auf dem Weg nach Zadar und bringt uns gegen echte Bezahlung in das nächste Nest hinter der Brücke. Wahrscheinlich der erste und letzte dieses Tages.

Wer glaubt, das Glück sei hier zu Ende, der hat sich geirrt. Wir finden den allerschönsten kleinen Campingplatz, den wir uns niemals zu wünschen getraut hätten. Ein schattiger Platz unter uralten Olivenbäumen, ein fast menschenleerer Kieselstrand und eine Eisdiele.

Und so schließt sich der Tageskreis. Vom zögerlichen Aufbruch ins Ungewisse zur glücklichen Gewissheit.