61. Etappe

Von Potpićan nach Martina

Heute bin ich gegen die Wand gelaufen.

Hoch türmt sie sich auf. Hoch in Metern. Hoch in meinem Kopf. Unüberwindbar aus einem für mich unverständlichen Grund. „Ich schaffe das nicht, ich schaffe das nicht.“

Das Übel begann schon heute Nacht gegen halb vier. In Titos Motel, mit Einkaufszentrum. Ich liege wach, starre in die Dunkelheit. Immer wieder gehe ich unsere morgige Tour im Kopf durch. 19 Kilometer und 700 Höhenmeter. Die ersten zehn Kilometer platt wie an der Elbe, die nächsten fünf Kilometer geht es hinauf und den Rest wieder bergab. Die mathematisch Begabten unter uns können sich jetzt ausrechnen, wie viel Prozent Steigung das ergäbe. Ich kann das nicht, ich muss es auch nicht wissen. Die gesamten Höhenmeter absolvieren wir auf unmarkiertem, istrischen Waldpfad, den wahrscheinlich in den letzten zehn Jahren kein Schwein gegangen ist. Im schlimmsten Fall endet er irgendwo im Nirgendwo. Es wird sicher wieder heiß morgen und wir haben zehn Kilogramm Gepäck auf dem Rücken.

„Ich schaffe das nicht.“

Der Rücken des Učka, des größten Gebirgsmassivs an der östlichen Seite der Halbinsel Istrien, wird in meiner Vorstellung größer und größer. Wilde Tiere tummeln sich hier und Räuber lauern am Wegesrand. Die Geister der Nacht sind am Werk. Ich finde keine Ruhe.

Was treibt uns zu derartigen Ochsentouren, frage ich mal so ganz nebenbei? Eigentlich wollten wir doch in aller Ruhe drumherum spazieren? Die übliche Suche nach dem billigsten Quartier, was sonst und das ewige Weiter, Weiter, Weiter. Mit einer gemütlichen Zehn-Kilometer-Tour würden wir uns doch nicht zufrieden geben. Regen, Kälte, Hitze, Unwetterwarnungen – kein Grund, es mal ruhig angehen zu lassen. Ruhetage sind selten. Ja, ja, ich weiß schon, wir sind Reisende und wollen von A nach B. Im Moment sind wir eher Rasende.

Hier läuft etwas schief. Die Nacht ist nicht zum Grübeln da, sondern zum Schlafen.

Beim ersten Hahnenschrei verkünde ich mein Unglück. „Hähni, ich schaffe das nicht.“

Mein Begleiter reagiert verständnisvoll und wir finden schnell eine Lösung. Der Plan geht so: Erst mal einen Kaffee trinken, in der Bar gegenüber, dann laufen wir 10km durch die Ebene. Am Fuß des Gebirgsmassives frühstücken wir und treffen eine Entscheidung. Entweder wir gehen darüber oder wir wenden uns in Richtung Süden. Bis zur nächsten größeren Menschenansammlung. Von dort trampen wir oder wir nehmen den Bus, falls einer kommt.

Die Nummer mit dem Kaffee ist gut, der Weg durch die Ebene wunderschön, wenn nicht die Wand vor uns wäre.

„Ich schaffe das nicht“, hämmert es in meinem Kopf. Und Worte wie „Versagerin“ und „Memme“ und „Angsthase“. Es ist nicht die Sorge, es aus einem körperlichen Aspekt vielleicht nicht zu schaffen. Es geht uns wunderbar. Die Durchschnittsgeschwindigkeit steigt beständig. Der Rucksack ist zum Freund geworden und stört kaum noch. Es ist etwas im Kopf. Ein anderes, nicht in Kilo messbares Gewicht was für heute zu schwer geworden ist. Die Zweifel, die Bedenken, die Ängste, die vielen vielen Gedanken, die Unmengen von Eindrücken, die mich auf dem täglichen Weg ins Unbekannte begleiten. Mein Begleiter hat da viel weniger Gepäck dabei, ist aus einem anderen Holz, muss nicht so viel denken. Trägt nicht so schwer. In unserer Gesellschaft ist diese Sorte Mensch anerkannter, erfolgreicher. Aber zum Glück sind wir uns auch hier einig. Auf unserer Wanderschaft ist das schwächste Glied tonangebend.

Beim Frühstück kriege ich nur schwer einen Bissen herunter.

„Hähni, wir müssen uns nicht beraten, ich habe mich entschieden, ich möchte nicht darüber gehen. Lass uns trampen.“

Ich sage das kläglich und mit einem dicken Kloß im Hals. Wir packen unsere Frühstückssachen und wenden uns wie besprochen nach Süden. Die Wand vor mir aus dem Blickfeld, die Wand in mir manifest. Ich fühle mich wie ein Teenager, der ambitioniert auf den Fünf-Meter-Turm im Schwimmbad geklettert ist und sich dann doch nicht getraut hat zu springen. Unter den Augen aller muss er die Leiter wieder herunterklettern. Was für eine Schmach.

Was tue ich hier, warum tue ich mir das an, warum haben wir uns diese Aufgabe ausgesucht? Die Wand bröckelt, erlösende Tränen brechen sich Bahn. Da stehe ich schluchzend auf dem heißen Asphalt einer Landstraße irgendwo in Europa. Und zum ersten Mal will ich nichts als heim.

Robert nimmt mich in den Arm. „Huhni, wenn wir heute angekommen sind, dann sind wir am Meer, da gibt es einen schönen Strand. Wir nehmen uns eine Ferienwohnung und bleiben so lange, bis Du wieder Lust und Kraft hast, weiterzugehen.“

„Ist gut, Hähni, so machen wir es“, antworte ich erleichtert und putze mir erst einmal die Nase.

Ich bin an eine Grenze gestoßen, gegen eine innere Wand gelaufen. Grenzen sind dehnbar, Hindernisse überwindbar. Das Rezept: unendlich Geduld, unerschütterliches Vertrauen und viel Liebe. Da habe ich keine Zweifel, das hat mich das Leben mit meinen Kindern gelehrt und die Arbeit mit meinen Leuten aus dem Musikzimmer. Mal sehen ob ich diese Dinge auch für mich selber übrig habe.