59. Etappe

Von Motovun nach Pazin

„Robert, hier waren wir schon einmal! Hier, auf der Stadtmauer, in diesem kleinen Restaurant haben wir einen Kaffee getrunken. Ich weiß es ganz genau.“ Der Angesprochene pflichtet mir bei. Die Erkenntnis ereilte uns gestern Abend auf einem nächtlichen Spaziergang durch Motovun. Mühsam rekonstruieren wir die Ereignisse. 2016 muss es gewesen sein. Da waren wir schon einmal in Istrien. Damals mit dem Auto. Wir kramen in den Erinnerungen. Ein Campingplatz an der Küste, eine Wanderung durch aufgegebene Dörfer, wir haben Dart gespielt in einer Dorfkneipe, wunderbare Ausblicke. Fragmente, nichts als Fragmente. Wir sind enttäuscht von uns selbst. Waren wir nur mit uns beschäftigt? Warum haben wir nichts aufgeschrieben? Wäre es sinnvoller gewesen, im Bett zu bleiben? Gerade hatten wir uns kennengelernt, gerade begann unsere gemeinsame Lebenszeit. Die Fragen müssen vorerst offen bleiben. Ab ins Bett, auf uns wartet morgen das nächste Abenteuer.

Heute betreten wir das „terra incognita“ von Komoot. So heißt die App, mit der wir unsere Touren planen. Hier im Herzen Istriens fehlen ihr die Worte. Hier wird nicht mehr gewandert und auch nicht Fahrrad gefahren. Hier sind wir auf uns selbst gestellt und kommen wunderbar zurecht. Wählen ein kleines, recht anspruchsvolles Höhensträßchen. 22 Kilometer und 500 Höhenmeter liegen vor uns. Wir haben uns das schon angesehen. Aus dem Fenster unserer Herberge in Motovun.

Zunächst stolpern wir den Hügel hinunter. Steil geht es querfeldein durch Olivenhaine und Eichenwälder. Bienenstöcke am Wegesrand. Dann müssen wir auf der anderen Seite wieder hinauf. Haben bald unsere kleine, stille Straße gefunden. Steigen hoch und hoch und hoch. Das Herz pumpt, wir schwitzen. Wir bleiben immer wieder stehen, schauen zurück und bald auch herab auf das alte Städtchen, welches wir nun zum zweiten Mal besuchten. Das erste mal blind, das zweite mal ein bisschen klüger. Ich sehe die Fenster unserer Ferienwohnung, pünktchenklein. Da haben wir gestern gestanden, nachdenklich mit den Augen die gegenüberliegenden Hügel abgetastet, auf der Suche nach unserem Weg von morgen. Nun sind wir hier und schauen zurück auf unsere Vorstellungen von gestern.

Mich ereilt eine Erkenntnis. „Hähni, es ist nicht der Liebesrausch, der alle unsere Erinnerungen an den Urlaub 2016 verschwommen und fragmentarisch erscheinen lässt. Es ist die Art der Fortbewegung.“ Wir saßen in einer klimatisierten Blechbüchse und bewegten uns von A nach B, einen Reiseführer auf dem Schoß. Wir fanden uns schon hippiemäßig, wenn wir die Fenster runterleierten, die nackten Füße auf das Amarturenbrett legten und John Lennon hörten. Der Duft der Blumen, das Rascheln der flinken Eidechsen im Gras, der Gesang der Vögel, das Schritt für Schritt im Schweiße des Angesichts, das schwere Hinaufsteigen, das leichte Obensein, Blicke schweifen lassen und Gedanken. Dafür war nur begrenzt Raum.

Wie lange ist es her, dass wir Lars in Triest verabschiedeten? Kalendarisch fünf Tage. In unserer Wahrnehmung äonisch lange her. Zeit bekommt eine neue Dimension.

Die letzten vier Kilometer müssen wir trampen. Wir wollen uns schließlich nicht an der Hauptschlagader Istriens in Lebensgefahr bringen, die wir nach fünf Wanderstunden erreichen. Das fünfte Auto hält und wir steigen ein in eine kleine Klapperkiste. Der etwa 85jährige, schwerhörige Fahrer fährt uns mit zittrigen Händen, schweigend bis vor die Haustür. Bis vor seine Haustür in Pazin. Das ist günstig für uns. Pazin ist nun auch unser zu Hause. Für zwei Tage. Es gibt ein ethnologisches Museum, welches über das Leben in Istrien informiert. Da gehe ich hin. Und Robert will zum Schuster. Seine Sohlen sehen bedenklich aus. Wir brauchen mal wieder eine Pause.