53. Etappe

Von Anhovo nach Nova Gorica

Heute waren wir Grenzgänger. Mit einem Fuß in Slowenien, mit dem anderen in Italien. In unserem Schritt der „Eiserne Vorhang“ und die ehemalige EU-Außengrenze gleichermaßen. An dieser Stelle niemals höher als ein mittelmäßig hoher deutscher Gartenzaun. Keine Minen, selten Stacheldraht, keine Toten.

Aber beginne ich ganz von vorne. Als ich heute morgen erwache, trommelt der Regen ordentlich an unser Fenster. Ich setzte mich sehr gerade auf im Bett, streiche die Decke glatt, lege die Hände darauf und setzte ein leicht überhebliches Gesicht auf.

„Robert, es regnet und nicht wenig“, beginne ich meinen Monolog. „Wie findest Du die Entscheidung, welche ich gestern Nachmittag einsam und im Alleingang und gegen Deine inneren Widerstände getroffen habe, dass wir NICHT im Zelt schlafen?“

„Ja“, sagt der schläfrige Ignorant an meiner Seite.

„Was ja? Ja, gut? Oder Ja, schlecht? Oder Ja, ist mir doch egal?“

Ich inszeniere Entrüstung. Er kennt mich und er erkennt den Ernst der Lage. Ist nun hellwach, setzt sich ebenfalls gerade auf im Bett und spricht mit pathetischem Ausdruck in der Stimme: „Huhni, mit Deiner meteorologischen Weitsicht, mit Deinem Gespür für die Situation hast Du das Schlimmste verhindert. Wenn Du nicht...“

Ich grinse in mich hinein. Danke es reicht. Der Tag kann beginnen. Humor gibt Schwung. Der reicht gerade aus bis ins Café um die Ecke. Es regnet warmen dicken Regen, die Pfützen werfen Blasen. Wir wollen nicht da raus. Können uns nicht überwinden. Warum gehen wir in Tschechien und Österreich stundenlang durch Regen, der auch noch kurz vor dem Gefrierpunkt ist und jetzt stellen wir uns an wie Weicheier?

Auch hier ist der Kopf der größte Knackpunkt. Der Schirm weggeschmissen, die Handschuhe auch, seit drei Tagen tragen wir kurze Hosen. Die Energie, Nässe oder Kälte abzuwehren, ist aufgebraucht.

Wir nehmen den Bus nach Nova Gorica.

Nova Gorica, Görtz, Gorizia. Drei Namen für ein und dieselbe Stadt. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hieß der Ort am Ufer des Isonzo nur Görz. Knapp 25.000 Menschen lebten hier. Zwei Drittel sprachen Italienisch und das übrige Drittel teilten sich Slowenisch und Deutsch sprechende Menschen. Administrativ gehörte Görz zur Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall des großen Habsburger Reiches wurde es italienisch und änderte seinen Namen in Gorizia. Die erste große Katastrophe des 20. Jahrhunderts ging nahtlos über in die zweite.

Am 1. Mai 1945 teilte Josip Broz Tito, Anführer der jugoslawischen Partisanen, mit, dass seine Truppen bis zum Isonzo vorgerückt seien und er nun Anspruch auf die östlich des Flusses gelegenen Stadtgebiete von Görz erhebe. Quasi den wesentlichen Teil. Mit dem mühsam ausgehandelten Vertrag „Frieden von Paris“ wurde die Staatsgrenze 1947 zwischen Jugoslawien und Italien endgültig gezogen. Bei diesem elenden Geschacher wäre ich gern dabei gewesen. Der historische Stadtkern gehört nun zu Italien. Die kleinen Vororte östlich des Bahnhofes zu Jugoslawien. Die Grenze verlief direkt über den Bahnhofsvorplatz. Wir schauen uns diesen Ort an. Ein wunderschöner Bahnhof und wichtiger Halt der Wocheinerbahn. Eine Ausstellung im gut erhaltenen Gebäude informiert uns über die spektakuläre Bergbahn von Jessenice nach Triest. Und auch über die ehemalige Grenze. Wir stoßen auf ein Zitat von Winston Churchill aus dem Jahr 1946. Ich gebe es sinngemäß wieder. Etwas pathetisch formuliert er: „Ein eiserner Vorhang hat sich über den europäischen Kontinent gesenkt, entlang einer Linie von Stettin an der Ostsee bis Triest am Meer.“ Aus heutiger Sicht müssen wir ihn verbessern. „Etwas westlich von Boltenhagen an der Ostsee bis Triest am Mittelmeer“ beschreibt es genauer. Die Teilung Deutschlands und das Entstehen der kleinen DDR hatten die Diplomaten damals wohl nicht auf dem Schirm.

Verdrießen ließ sich Tito allerdings nicht. 1948 wurde der Grundstein für den neuen Stadtkern von Nova Gorica gelegt, eine Stadt vom Reißbrett. Ein neues urbanes Zentrum wurde auf jugoslawischer Seite geschaffen. Wir durchstreifen beide Städte. Der eiserne Vorhang ist verschwunden. 2007, dreieinhalb Jahre nach dem Beitritt Sloweniens zur EU, fielen die letzten Barrieren. Trotzdem könnte der Unterschied nicht größer sein. Die Grenze war eine Systemgrenze und das hat Spuren hinterlassen, die bis heute in uns wirken. Gorizia ist schön. Morbider Charme. In etwas heruntergekommenen Gässchen und auf unregelmäßig geformten Plätzen reihen sich historische Bauten aneinander. Kirchtürme geben Orientierung. Eine Burg thront über Allem. Bar folgt auf Restaurant folgt auf Tabakladen. Italienisch irgendwie. Überall sitzen die Menschen draußen, lesen Zeitung und trinken wertvollen Espresso aus dicken Tassen oder kühlen Weißwein aus teuren, beschlagenen Gläsern. In Nova Gorica ist die Anordnung der Straßen regelmäßig und breit. Magistralen mit stalinistischen Prachtbauten, in großen Quadern gepflasterte Fußgängerzonen, kaum ein Gebäude älter als 70 Jahre. Die Leute sitzen auch auf den Straßen in den zahlreichen Cafés. Die Sonne scheint genau so warm. Ungemütlich? Vielleicht. Wir sind trotzdem lieber hier. Können nicht raus aus unserer Haut – aus unserer Ossihaut.

Am Ende sind wir wahrscheinlich auch wieder 15 Kilometer gelatscht, eben nur durch Städte. Unsere Herberge liegt mitten in der „industrijska cona“, dem Gewerbegebiet vor den Toren der Stadt. Garantiert touristenfreie Zone. Die dritte Zahnpastatube haben wir nun angefangen, ein Nicki für Robert gekauft und ein Päckchen mit den dicken Pullovern aus unserem Rucksack per Post in die Heimat geschickt. Wir sind rundum glücklich. So wie alle Tage vorher auch.