52. Etappe

Von Tolmin nach Anhovo

Heute morgen in aller Herrgottsfrühe haben wir das noch tief im Schlaf versunkene Hostel Paradiso verlassen. Flüsternd und leise haben wir alles eingepackt und einen Kaffee getrunken – im Gemeinschaftsraum. Nur Lars war schon wach. Im ersten Doppelstockbett links oben neben der Tür hat er geschlafen und kaum ein Auge zugetan. Wir tauschen Adressen aus, wie früher im Ferienlager. Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

Es ist schön draußen. Kühl, frisch, still. Nur wenige Menschen unterwegs. Wir haben kein Hotel gebucht für heute, wir haben ja ein Zelt. Steuern „Kanal ob Soči“ an. 20 Kilometer entfernt. Wer früh losgeht, kommt früh an, hat Spielräume, was das Quartier betrifft. Außerdem wird es um die Mittagszeit schon ordentlich warm. Ich habe meinen Regenschirm und meine Handschuhe entsorgt und bei DM ein kleines Fläschchen Sonnencreme gekauft.

Der Weg ist einfach. Rechts von uns fließt der Fluss. Vor uns öffnet sich das Tal. Mal sehen, wann wir zum ersten Mal das Meer sehen. Immer wieder schauen wir zurück. Die schneebedeckten Zweieinhalbtausender hinter uns werden kleiner. Verlieren ihren Schrecken. Da sind wir drüber. Das war mit Sicherheit die spektakulärste Alpenquerung unseres Lebens. Wir haben es uns nicht leicht gemacht auf der Suche nach dem Weg des geringsten Widerstandes.

Wie ein mahnender Finger erhebt sich der 2244 Meter hohe markante Gipfel des Krn aus dem Massiv der Julischen Alpen. Zeit für eine Pause. Wir blicken zurück.

Tagelang wanderten wir durch den „Garten Eden“. Eingelullt vom Murmeln der grünblauen, wilden Soca, trunken von den ersten warmen Sonnenstrahlen, abgelenkt von den faszinierenden Blicken auf die Bergwelt, vollauf beschäftigt mit dem anspruchsvollen Weg, mit Hostelfeeling. Wir wussten schon immer, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Deshalb haben wir am Sonntag Pause gemacht. Waren im Museum in Kobarid. Wir sind interessiert an der dunklen Seite dieses Tales.

Der Fluss, besser bekannt unter dem Namen Isonzo, hat traurige Berühmtheit im Ersten Weltkrieg erlangt. Zwölf blutige Schlachten wurden hier geschlagen. 300.000 Menschen verloren ihr Leben. Zwei volle Jahre, zwischen 1915 und 1917, steckten auf dem Krn und auf der benachbarten Batognica italienische und österreich-ungarische Truppen in einem zermürbenden Stellungskrieg fest. In über 2000 Meter Höhe in hochalpinen Regionen und keine 100 Meter voneinander entfernt. Lawinen, Blitzschlag, Schneestürme, Trommelfeuer, Versorgungsengpässe, Leichen überall.

„Die Schützengräben waren unvorstellbar dreckig, man hockte mit unzähligen Toten zusammen, die von draußen zurückgebracht wurden, weil man sie während der Schlacht nicht begraben konnte. Dazu die Verwundeten. Wir können uns die sanitären Bedingungen gar nicht vorstellen. Inmitten von Blut und Scheiße?! Genau, ja ja ja. So war es.“ Haben wir im Museum gelesen.

Als sich zeigte, dass der Berg nicht im Sturm genommen werden konnte, begann der Minenkrieg in der Tiefe des Berges. Irgendwann kam „Hilfe“ aus Deutschland. In einer grausamen Materialschlacht ohne Rücksicht auf Verluste wurde die italienische Armee bis in die Poebene zurück gedrängt.

Der Erfolg der Offensive beruhte wesentlich auf dem zusammen mit einem Artillerieschlag durchgeführten Einsatz von Giftgas.

Fotografien von optimistisch dreinblickenden blutjungen Männern in Uniform, arroganten Generälen, sadistischen Unteroffizieren, Toten, Verstümmelten, Zeitzeugenberichte, Reliefs der Berge und die eingezeichneten Stellungen, Prothesen, Waffen. Ein Film über die Vorgeschichte. Wir durchschreiten das grauenvoll Unfassbare.

Nach drei Stunden treten wir in den gleißenden Maitag. Fassungslos, betreten und mit einem dicken Kloß im Hals. Wir setzen uns schweigend in ein Café. Beobachten wie aus einer Blase das uns umgebende Leben. Die Leute kommen gerade zurück von ihren Erlebnistouren. Eine Gruppe Mountainbiker klatscht ab. Schmeerbäuchige Motorradfahrer fressen Rippchen mit Pommes, Raftingtourfahrer taumeln herein mit adrenalinverzerrten Gesichtern, Kletterer bestellen vegane Hamburger.

„Warum, warum, warum?“ Tobt es in meinem Kopf. Wie konnte es zu dieser großen Katastrophe kommen und warum passiert es überall auf diesem Globus und in diesem Moment genau so immer weiter? Und warum um alles in der Welt schaut ihr nicht hin? Wollt ihr es nicht wissen? Ertränkt euren gesunden Menschenverstand, euer Gefühl im Konsum? Seid ihr, sind wir nicht alle Teil der Antwort auf das „Warum“. Ich bin wütend und Wut ist mein schlechtester Berater, macht mich ungerecht und nichts besser. Ich muss mich beruhigen.

Ich wende meinen Blick ab vom Krn. „Komm, lass uns weitergehen“, sage ich zu meinem Begleiter, der ähnlich empfindet wie ich.

Die nächsten 20 Kilometer sind versöhnlich. Auf einem schmalen Sträßchen auf halber Berghöhe durch schattige Wälder, vorbei an urigen Höfen. Schafe stehen in hohem saftigen Gras. Alles blüht. Wir sind im Süden angekommen. Feigenbäume, Weinstöcke, blühende Akazien, Grillen zirpen. Schon um 12:30 Uhr sind wir am Ziel. Trinken eine Cola, machen Lagebesprechung. Wir haben ja nichts gebucht und laufen einfach noch 5 Kilometer weiter, nach Anhovo. Wir können ja noch.

Die Soča fließt hier träge und grün wie abgestandenes Fitwasser, die Berge sind unspektakulär niedrig. Am Ortsausgang ein riesiges, tösendes Fabrikmonster. Eine Zementfabrik. Wir sitzen an einer stark befahrenen Straße in einem Café. An den Nachbartischen keine Biker, Rafter, Hiker, Paraglider, keine schlanken Rennradfahrer staksen auf ihren Stollenschühchen herein. Hier sitzen Arbeiter in staubigen Schuhen beim Feierabendbier, ältere Frauen aus dem Ort essen einen Eisbecher, die üblichen Trinker mit schwermütigem Blick hängen an der Theke, der halbe Liter Bier kostet wieder 2,20 Euro. Der Blick aus unserem Fenster geht auf einen heruntergekommenen Wohnblock. Kinder spielen auf der Grünfläche dazwischen. Wir sind zurück im Leben. Mann, bin ich froh.